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Den Wald UND die Bäume sehen – Anwendungen von Augmented Reality gestalten 

 

 

Das Projekt SPUR.lab will digitale Anwendungen insbesondere der Augmented Reality entwickeln, die sich an „didaktischen und ethischen Standards“ orientieren. Mit "neue[n] Erzählformen zum Thema Nationalsozialismus und nationalsozialistische Lager in Brandenburg" sollen Gedenk- und Geschichtsorte in der Bewahrung und Vermittlung der Erinnerung unterstützt werden.

Um das Potenzial der Ethik als Kompass zu nutzen, bietet sich auch hier ein Vorgehen gemäß dem so genannten Wertesensiblen Design an (Übersetzung von "value sensitive design" durch die Autorin), bei dem (ethische) Werte bei der Entwicklung von digitalen Anwendungen berücksichtigt werden (vgl. Grüber und Loevskaya 2020). Je früher die ethische Reflexion erfolgt, umso größer sind die Gestaltungsmöglichkeiten. Hierbei sollte auch berücksichtigt werden, dass digitale Anwendungen immer auch technischen Einschränkungen haben (vgl. Walden 2021).

NORMATIVE RAHMUNGEN

Die didaktische und pädagogische Tätigkeit von Gedenkstätten wird insbesondere durch den Beutelsbacher Konsens von 1977 normativ gerahmt. Er besteht aus drei Prinzipien: (1) dem Überwältigungsverbot, (2) der Anforderung, kontroverse Erkenntnisse und Meinungen der Wissenschaft und der Politik abzubilden, und (3) der Notwendigkeit, Menschen bei der Analyse von politischen Situationen und den eigenen Interessen zu unterstützen (Wehling 1977). Der Zugang darf weder zu emotional noch ausschließlich emotional sein, das heißt, es sollten Informationen vermittelt werden und Menschen über geeignete Methoden oder ein geeignetes Setting zur Reflexion angeregt werden. Während auf der allgemeinen (unter Umständen deklamatorischen) Ebene der Beutelsbacher Konsens auf breite Zustimmung stößt, zeigen sich sowohl auf der Ebene der Interpretation als auch der Operationalisierung Unterschiede (vgl. Sammelband zum Beutelsbacher Konsens 2015). Dies wird unter anderem mit der "normative[n] Unterbestimmtheit" begründet (Geßner et al. 2015). Im Prinzip müssen alle normativen Rahmungen, das heißt auch der Beutelsbacher Konsens, interpretiert und operationalisiert werden, um in Handlungen konkretisiert werden zu können. Diese Vorgänge unterscheiden sich aus verschiedenen Gründen, wie im Folgenden dargelegt wird.

In den Fachdiskursen um Virtual Reality bzw. Augmented Reality spielt das Nicht-Schadens-Prinzip eine wichtige Rolle. Mehrere Autor:innen warnen vor einer Informationsüberflutung der Nutzer:innen oder auch vor negativen (etwa traumatischen) Wirkungen. Im Fokus sind insbesondere individuelle Nutzungen ohne Begleitung, also außerhalb eines Settings wie beispielsweise einer Gedenkstätte. Autor:innen warnen unter dem Hinweis auf mögliche Risiken entweder grundsätzlich oder machen Vorschläge wie Nutzungsbegrenzungen oder Warnhinweise, sehen also einen vermuteten Schaden nicht per se als ein K.o.-Kriterium.

Ethische Prinzipien betreffen in der Regel lebende Menschen. Für die Arbeit von Gedenkstätten ist es aber notwendig, die Reichweite auch auf Tote auszudehnen, indem sowohl die Würde der noch lebenden als auch der gestorbenen/ermordeten Opfer in den Blick genommen wird. Auch hier gilt, dass im Prinzip der Maßstab von allen geteilt wird. Auf der konkreten Ebene kann es aber Unterschiede in der Beurteilung dessen geben, wodurch die Würde der Opfer bei Anwendungen der Augmented Reality verletzt wird: etwa durch die Darstellung von Gaskammern oder wenn das Gefühl vermittelt wird, man könne in das Lagerleben "eintauchen" bzw. fühle so, wie sich Inhaftierte gefühlt haben müssen.

Vielfältige Interpretationsmöglichkeiten

Für unterschiedliche Übersetzungen der ethischen Prinzipien in Alltagshandeln gibt es verschiedene Gründe:

  • Die Akteur:innen haben unterschiedliche Perspektiven und unter Umständen auch unterschiedliche Interessen. Das gilt für Mitarbeitende aus Gedenkstätten bzw. Museen und Ausstellungshäuser ebenso wie für Technikentwickler:innen, Designer:innen, Künstler:innen, Überlebende und ihre Angehörigen, Nutzer:innen von Social Media etc., den Staat, die (Zivil-)Gesellschaft und last but not least Besucher:innen von Gedenkstätten.
  • Auch innerhalb der oben genannten Gruppen gibt es Unterschiede. Dies betrifft beispielsweise das Alter, den kulturellen Hintergrund, den Zugang zu Technik, die Medienkompetenz oder die Motivation, Gedenkstätten aufzusuchen. Hinzu kommt: Es gibt nicht die eine normative Landkarte. Menschen handeln auf der Grundlage von unterschiedlichen, differenzierten Wertevorstellungen und Menschenbildern, wobei diese ihnen nicht immer bewusst sind.

Meine These: Die Anerkennung der unterschiedlichen Perspektiven und Interessen ist für Reflexions- und Aushandlungsprozesse notwendig, weil sonst die genannten Unterschiede überdeckt werden. Didaktische und ethische Standards müssen immer wieder ausgehandelt werden. Die Anerkennung von Vielfalt bedeutet nicht Beliebigkeit. Selbstverständlich ist es auch notwendig, Grenzen zu ziehen und nicht alles zu tun, nur weil es technisch möglich ist.

@414films potsdam

Aber mindestens ebenso wichtig erscheint es, unter Berücksichtigung der Vielfalt Standards zu entwickeln, zu konkretisieren und zu operationalisieren. Es geht also darum, positive Anforderungen zu formulieren, um dem Anspruch zu genügen, die "Gedenk- und Geschichtsorte in der Bewahrung und Vermittlung der Erinnerung [zu] unterstützen". Dies ist eine Aufforderung an die Beteiligten zu formulieren, was sie von der Anwendung erwarten – auf der Grundlage des Beutelsbacher Konsenses, aber eben konkreter. Schließlich ist Augmented Reality nur ein Instrument (Klemke 2021).
 

Augmented Reality verstehen

Um Anwendungen gestalten zu können, ist es notwendig, die Möglichkeiten der Augmented Reality (und deren Grenzen) gut zu verstehen. Kann sie nur immersive Räume schaffen oder ist sie auch für eine "kritische Auseinandersetzung mit historischen Quellen" geeignet (vgl. die Beschreibung von Walden von "Eye as Witness")? Ist das Virtuelle tatsächlich "gefälliger" als das "widerborstige Physische" (vgl. Drecoll 2021)?

Um die Folgen einer Anwendung beurteilen zu können, ist der Kontext zu berücksichtigen. Es ist also nicht nur zu fragen: Was kann Augmented Reality allgemein, sondern: Was kann eine Anwendung von Augmented Reality in einer bestimmten Situation und was soll sie können? Wird sie eingebunden in die Gedenkstättenarbeit oder in die Vermittlungsarbeit von Museen vor Ort (und wenn ja, wie), ist sie Teil einer digitalen Gesamtkonzeption oder wird sie isoliert angeboten und ist für alle frei im Internet verfügbar?

In Alternativen denken - das Beispiel der Dialoge mit den Opfern

Es ist notwendig, in Alternativen zu denken, das heißt, die technische Anwendung "strikt als eine bloße Möglichkeit unter anderen zu behandeln" (Hagen 2018, S. 135). Um vergleichen zu können, müssen die Ziele und der Zweck möglichst gut beschrieben werden. Was soll erreicht werden und wie soll es erreicht? Wird es erreicht? Auf welcher Ebene und auf der Grundlage welcher Kriterien liegen Unterschiede?
 

@screenshot ZDF heute Journal 16.01.2021

Dies soll an einem der vielen Anwendungsmöglichkeiten deutlich gemacht werden. Ein Aspekt, der als Chance von Augmented Reality genannt wird, ist, in einen "Dialog" mit den Opfern zu treten, auch nach ihrem Tod. Es lohnt sich dabei, nicht nur zu fragen, ob und inwieweit es möglich ist, sondern einen Schritt zurückzutreten und grundsätzlichere Fragen zu stellen, und zwar nicht nur an die Augmented Reality, sondern auch an analoge Möglichkeiten. Welche Bedeutung haben und hatten diese Gespräche?

Unbestritten empfinden fast alle, die einen direkten Austausch mit Überlebenden erlebt haben, dies als Privileg und werden dieses Erlebnis niemals vergessen. Gleichzeitig waren und sind diese Gespräche aus zwei Gründen immer nur ein Baustein in der Vermittlung demokratischer Werte. Erstens hatte auch in der Vergangenheit nur ein Teil der Bevölkerung Zugang zu solchen Gesprächen. Zweitens regen Gespräche mit Überlebenden zur kritischen Reflexion an, können diese aber nicht ersetzen. Zu Recht warnt Walden davor, "die Komplexität des Holocaust auf eine einzige, leicht zu verstehende Erzählung zu reduzieren" (Walden 2021).

Wenn Gespräche aber nur ein Baustein sind, dann ist zu fragen, ob sie in Form von Virtual Reality oder Augmented Reality ersetzt werden müssen. Und wenn sie ersetzt werden, dann ist die Frage nach den Alternativen zu stellen (digitale Formen wie Filme, gesprochene Texte etc.). Die Herstellung von Produkten der Augmented Reality sind aufwändiger als andere Methoden. Allein wegen dieses Mehraufwandes erscheint ihre Anwendung begründungspflichtig.

Diese Fragen zeigen: Es ist notwendig, die verschiedenen Ansätze von Augmented bzw. Virtual Reality möglichst gut zu beschreiben, sich einen realistischen Eindruck zu verschaffen (am besten durch Empirie), zu hinterfragen und zu reflektieren.

Ausblick

Dieser Beitrag will zur Diskussion und zur Reflexion anregen. Er ist ein Plädoyer dafür, möglichst genau hinzuschauen und möglichst präzise zu formulieren. Last but not least bestärkt er die am SPUR.lab Beteiligten darin, Ansprüche an Anwendungen von Virtual Reality oder Augmented Reality sorgfältig zu formulieren. Außerdem ist es wichtig, nicht nur zu vermuten, wie Augmented Reality und Virtual Reality in der Gedenkstättenarbeit wirken, sondern sie auszuprobieren, den Prozess wissenschaftlich zu begleiten und dabei möglichst viele verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen. Das wäre im Sinne eines Wertesensiblen Designs.

Dr. Katrin Grüber ist die Leiterin des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft IMEW gGmbH. Zudem ist sie Mitglied im Vorstand der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen. 

Das IMEW entwickelt im Rahmen der ethischen Begleitforschung des PPZ-Projektes ein Instrument zur ethischen Reflexion im Pflegealltag. Das Institut hat für SPUR.lab einen begleitenden Workshop durchgeführt und steht im Austausch zu ethischen Fragen.

Mehr Informationen unter IMEW. Die Literaturliste dieses Artikels ist bei der Autorin (email) erhältlich.

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