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Mehr Geschichte wagen: Wie die Gen Z den Themen Nationalsozialismus und Shoah begegnet

 

Bis vor Kurzem hatte sie kaum jemand im Blick. Die Gen Z, die heute 16 bis 25-Jährigen, wurden von Eltern, Schule, Politik und Medien als weitgehend unpolitische Medien-Junkies wahrgenommen, die sich mehr für ihre Smartphones und Likes auf sozialen Plattformen als für die politische und soziale Realität interessieren. Die Pandemie, der globale Kampf gegen den Klimawandel und Proteste gegen rassistische Gewalt zeichneten dann ein für viele überraschendes Bild. Hier wächst eine Generation heran, die sich der Herausforderungen ihrer Gegenwart sehr wohl bewusst ist, sich politisch engagiert, und dazu die Formen und Formate nutzt, mit denen sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen von heute am besten auskennen: Smartphones, digitale Videos, soziale Medien, Informationsplattformen, Podcasts. Sie informieren sich auf YouTube oder TikTok, interessieren sich dabei längst nicht mehr nur für Musik und Mode, sind skeptisch angesichts der beschönigenden Filterwelten von Instagram und verstehen etwas von digitalem Storytelling, auch im Kontext von Verschwörungsphantasien. Sie interessieren sich für ihre Gegenwart – und darum auch für die Geschichte.

 

fotocredit: Arolsen Archives

Eine von den Arolsen Archives in Auftrag gegebene Studie des Kölner Rheingold Instituts ist nun zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Gen Z deutlich mehr für die NS-Zeit interessiert, als die Generation ihrer Eltern. 75% der Befragten betonen ihr Interesse für das Thema. 73% finden, dass sich gerade ihre Generation damit mehr beschäftigen solle, und 78% messen dem Thema große Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft zu.

 

Relevanz für heute

Die NS-Vergangenheit und mit ihr auch die präzedenzlosen Verbrechen der Shoah fungieren als Gegenbild ihrer eigenen Lebenswelt mit zahlreichen Wahl- und Entfaltungsmöglichkeiten. Gerade darum dient die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit als Sensibilisierung für heutige Gewahren. Die Jugendlichen schlagen dabei Brücken zu ihrem Alltag und nutzen die Vergangenheit als Folie, um ihre Gegenwart und die damit verbundenen Probleme und Gefahren wie Rassismus (39%), gesellschaftliche Spaltung und Radikalisierung (38%) und systematische Benachteiligung und Ausgrenzung (30%) besser zu verstehen, alles Bereiche, in denen sich ihre Bewertung von der ihrer Eltern unterscheidet. Viele sehen beispielweise in der stärkeren Empfänglichkeit für rechte Ideologien Bezüge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, oder auch beim Thema Fake News und Verschwörungstheorien.

Gerade junge Menschen aus dem Osten Deutschlands scheinen einen noch stärkeren und näheren Zugang zur NS-Geschichte zu haben. Die Studie deutet auf eine „höhere Sensibilität“ hin und betont, dass schneller Verknüpfungen zur Gegenwart gezogen werden. Auch die stärkere Präsenz der DDR-Geschichte erhöht das Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationsgeschichte zeigt sich ein ebenso hohes Interesse an dieser spezifischen Geschichte wie bei den anderen Teilnehmenden der Studie. Allerdings begegnen sie dieser Auseinandersetzung vor einem anderen Erfahrungshintergrund, der durch Alltagsrassismus und stärkere Fragen nach Zugehörigkeit geprägt ist. Die Studie betont, dass sie auch aufgrund des Vergleichs mit den Herkunftsländern ihrer Eltern die demokratische Kultur schätzen und sich insbesondere für die Strukturen von Verfolgung und Ausgrenzung interessieren.

fotocredit: Arolsen Archives

Die Studie hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Lebenswelt der Jugendlichen besser zu verstehen, in der auch der Umgang mit neuen Medien und Erzählformaten eine wichtige Rolle spielt. Ein besonderer Fokus lag dabei auf den Einstellungen zur Geschichte von Nationalsozialismus und Shoah. Die Forscher*innen interessierten sich dabei für Interessen und Barrieren beim Zugang sowie persönliche Bezüge zur Geschichte. Die Studie basiert auf einer qualitativen Serie von Videointerviews und einer quantitativen Stichprobe. Dabei wurden nicht nur Angehörige der Gen Z befragt, sondern als Vergleichsgruppe auch 40 bis 60-Jährige Angehörige der Elterngeneration.

Suche nach Antworten

Eine als extrem wahrgenommene Geschichte und eine immer komplexer werdende Gegenwart: „Die jungen Menschen stehen vor essentiellen, existentiellen und extremen Lebensfragen, die ihre zukünftige Entwicklung betreffen,“ beobachten die Autor:innen der Studie. „Man sucht überall nach Antworten, u.a. in der Geschichte, gerade in der NS-Geschichte!“ Damit wird auch die Frage nach Zugängen zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufgeworfen. Deutlich wird, dass die wachsende Distanz zur Zeit des Nationalsozialismus nicht notwendig zu einer Abnahme des Interesses an diesem Kapitel deutscher Geschichte führt. Im Gegenteil scheint sich die jüngere Generation dem Thema ungezwungener und mit mehr Neugierde nähern zu können.

Allerdings begegnen die Studienteilnehmer:innen oft Hindernissen. Die Studie nennt in diesem Kontext die Angst vor emotionaler Überwältigung, die (Über-)Komplexität des Themas, fehlende Bezüge zur eigenen Lebenswelt und den Eindruck, die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sei bereits abgeschlossen. Das hat auch Auswirkungen auf die Nutzung von Vermittlungsangeboten. 23% der Befragten finden das Thema aufgrund seiner Komplexität zu schwierig zu verstehen. 26% haben den Eindruck, dass die verfügbaren Informationen eher langweilig und uninteressant sind.

Als besonders wichtig wird darum die Begegnung mit den historischen Orten hervorgehoben. Anders als die reine Informationsvermittlung durch Schulbücher und Texte, eröffnet der Besuch von Gedenkstätten einen anderen Zugang. „An diesen Orten kann man viel besser die damalige Stimmung begreifen als durch ein normales Sachbuch – Leider besuchen wir solche Orte viel zu selten,“ so eine 17-Jährige aus Sachsen.

Aber auch die Relevanz des Themas für die Gegenwart der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat entscheidenden Einfluss auf die Bereitschaft, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. „Bei geschichtlichen Themen fehlt mir einfach die Aktualität. Je präsenter etwas ist, desto realer ist es und das macht es spannend,“ erklärt ein 25-Jähriger Teilnehmer der Studie. Der Bezug zur Lebensrealität der Gen Z spielt also für Vermittlungsansätze eine große Rolle. Wichtig ist aber außerdem auch die Herstellung einer Atmosphäre, in der sich die jungen Menschen eine eigene Meinung bilden und aktiv mit der Geschichte auseinandersetzen können.

Digitale Vermittlung

Wenn es um Vermittlungsformen und den Einsatz von Medien geht, wünschen sich viele Studienteilnehmer:innen mehr digitale Zugänge zur Geschichte. Allerdings sollen diese bisherige, analoge Zugänge nicht ersetzen. Zwar favorisieren sie knapp aufbereiteten Content und kurze Videos zur Informationsvermittlung, möchten sich aber auch in „Biografien einfühlen“, beispielsweise durch Serien, Filme oder Podcasts. Das bewies zuletzt der Erfolg eines 18-Minütigen Videos über die Geschichte der Wannseekonferenz, das vom ZDF für die junge Zielgruppe hergestellt und auf YouTube hochgeladen wurde. In nur einer Woche wurde das Video mehr als 200.000 Mal angesehen. 862 Benutzer:innen der Plattform hinterließen überwiegend positive Kommentare wie dieser: „Mir fehlen immer noch die Worte dafür, das liegt aber nicht an eurem Beitrag der war wirklich super gemacht und hat viele Dinge gezeigt oder auch erklärt die man jetzt nicht so in der Schule gehört oder mitbekommen hat.“

Der von den Autor:innen der Studien hervorgehobene „Snackable Content“, also gut aufbereitete kleine Dosen an Wissen und Inhalten, kann dabei durchaus der Auslöser für eine weitergehende Auseinandersetzung sein: „Ich gucke jeden Tag kurze Videos auf TikTok, in denen beispielsweise Afroamerikaner von ihren Erfahrungen mit Rassismus erzählen. Das löst in mir den Wunsch aus, mehr zu erfahren und zu verstehen, wie es dazu kommen kann, dass einer einzelnen Person sowas Schlimmes widerfahren kann,“ berichtet ein Teilnehmer der Studie.

Medien und Informationen werden aber auch kritisch hinterfragt. Laut der Studie sieht die Gen Z durchaus einen „starken Zusammenhang zwischen der heutigen Fake News Problematik und der damaligen NS-Propaganda“. Manipulation wird als großes Problem gesehen, was sich vielleicht auch in dem großen Interesse an einer Plattform wie TikTok zeigt, der von der Gen Z ein hohes Maß an „Authentizität“ zugeschrieben wird, da die dort geposteten Videos durchaus unvollkommen und fehlerhaft sein dürfen und die Verwendung von Effekten transparent gemacht wird.

Digitale Ansätze und analoge Vermittlungsformen sollten wenn möglich miteinander verschmelzen, so die Studie. Dabei bietet sich einerseits die verstärkte Nutzung sozialer Medien wie Instagram oder TikTok an, aber auch von Streaming-Kanälen wie YouTube und Twitch. 58% favorisieren leicht verständliche Informationen, die online verfügbar sind. 58% wollen mehr mitreißende Geschichten in Filmen und Serien. 56% würden gerne mehr über die Erfahrungen von Überlebenden und Zeitzeugen erfahren. Sie sollen präsenter sein. Eine Möglichkeit dazu bieten virtuelle Technologien und Verfahren, wie sie beispielsweise in den volumetrischen Zeitzeugnissen von Shoah-Überlebenden der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF und dem Volucap Studio zur Anwendung kommen (hier). Aber auch Chat-Bots oder Social Media Accounts können eine Auseinandersetzung mit persönlichen Geschichten und Zeugnissen ermöglichen. Auf TikTok bietet sich mittlerweile die Möglichkeit, Fragen an auf der Plattform aktive Shoah-Überlebende zu stellen, die dann von diesen mit kurzen Videos beantwortet werden.  Insgesamt wünschen sich 49%, dass das Thema Nationalsozialismus stärker digital vermittelt wird. Daneben bleiben aber auch analoge Zugänge wichtig, beispielsweise Besuche von Gedenkstätten.

Multiperspektivität

Wichtig sind „echte Beispiele“, also reale Geschichten und Biographien sowie die Auseinandersetzung mit historischen Quellen. 46% wünschen sich die Möglichkeit einer intensiveren Auseinandersetzung mit originalen Quellen und historischen Dokumenten. Auch dafür können digitale Technologien eingesetzt werden.

Bildstill ZDF

Der vom ZDF hergestellte virtuelle Rundgang zur Geschichte der Wannseekonferenz bietet beispielsweise diese Möglichkeit. In fünf Räumen können historische Fotografien und Dokumente betrachtet und Ausschnitte aus Spiel- und Dokumentarfilmen angeschaut werden, begleitet vom Avatar des Mr. Wissen2Go, Mirko Drotschmann. Allerdings bleiben die interaktiven und insbesondere partizipatorischen Möglichkeiten der Anwendung begrenzt.

Beides, also ein biographischer genauso wie quellengestützter Zugang, sollte in den historischen Kontext und in konkrete Lebenswelten eingebettet, oder auf sie bezogen werden, und außerdem, so die Studie, bräuchte es verstärkt Anknüpfungspunkte an das eigene Leben. Besonderes Interesse wird in diesem Kontext an der Auseinandersetzung mit Täterschaft geäußert. „Ich will auch die Beweggründe der ganzen SS-Offiziere, KZ-Leiter oder der Menschen, die ihre jüdischen Nachbarn verraten haben, sehen. Wenn die Gründe transparent sind, würde ich bestimmt feststellen, dass auch mir sowas passieren kann,“ erklärte eine junge Frau aus Sachsen. Gewünscht ist ein Perspektivwechsel: die Erfahrungen der Opfer und die Ungerechtigkeit, die sie erfuhren, nachvollziehen und gleichzeitig mehr über die Rolle der Täter:innen erfahren.

Ausblick

Das Interesse an Geschichte und insbesondere an der Geschichte von Nationalsozialismus und Shoah scheint hoch zu sein in der Gen Z in Deutschland. Wachsende zeitliche Distanz tut dem keinen Abbruch. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen möchten aber selbst „auf Entdeckungstour gehen“. Sie wollen eigenständig recherchieren und die Spuren der Geschichten eigenständig lesen und zusammensetzen. Dabei können digitale Medien und Technologien helfen, wenn die damit verbundenen Inhalte Freiräume zur Auseinandersetzung mit und Aneignung der Geschichte eröffnen sowie Bezüge zur eigenen Lebenswelt herstellen und sowohl globale als auch regionale Perspektiven sowie die Erfahrungen von Betroffenen und Strukturen und Bedingungen von Täterschaft miteinander verbinden. Podcasts und digitale Videos, kurze Formate und historisches Erzählen in Filmen und Serien, die Begegnung mit Erlebnisberichten in digitalen Umgebungen und die aktive Beschäftigung mit Quellen und Dokumenten sind zentrale Bestandteile der Auseinandersetzung mit Geschichte in der jüngeren Generation. Dabei bleiben aber auch analoge Formate und Ansätze wichtig, insbesondere der Besuch von Gedenkstätten und die eigenen Erfahrungen an den historischen Orten.

Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Senior Lecturer für Visuelle Kultur, Film und Deutsche Kultur- und Sozialgeschichte an der Hebrew University Jerusalem. Er publiziert und forscht zu verschiedenen medialen Ausprägungen der Erinnerung an die Shoah, insbesondere zu Formen des filmischen und des digitalen Gedächtnisses.

Er ist wissenschaftlicher Experte im SPUR.lab Projekt.

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