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Schichten sehen: Gedenkstätten als erweiterte Orte

Stellen wir uns folgendes vor: An einem Herbsttag machen wir einen Spaziergang über Wald- und Feldwege nahe einer kleinen Ortschaft in Brandenburg. Wir unterhalten uns über das Wetter, die neuesten Corona-Maßnahmen, vielleicht tauschen wir uns auch über die Klimakrise oder ein anderes aktuelles Thema aus. Wir fühlen uns anwesend an diesem Ort, den wir uns mit Unterstützung unserer Körper – durch Bewegung im Raum – erschließen. Der Ort ist uns präsent, aber seine Zeitlichkeit ist die Gegenwart. 

Wir denken nicht daran, dass vor etwas mehr als 76 Jahren andere Menschen auf eben diesen Wegen gingen. Sie machten damals keinen gemütlichen Spaziergang, sondern wurden von uniformierten SS-Mannschaften auf einen Todesmarsch gezwungen.

Peter Schmelzle, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Die letzten Monate oder Jahre hatten sie in einem Lager verbracht. Nur mit Glück hatten sie bis jetzt durchgehalten. Sie hatten Heimat, Familie und Freunde verloren, und ihre „Arbeit“ hatte vor allem den Zweck gehabt, sie auszubeuten und zu vernichten. Wir denken nicht an diese Häftlinge aus verschiedenen Ländern Europas, die hier auf Wald- und Feldwegen in Brandenburg einer ungewissen Zukunft entgegen gingen, die höchstwahrscheinlich den Tod für sie bereithielt. Wir können ihre Anwesenheit an diesem Ort nicht spüren, ganz einfach, weil wir nichts von ihrer Geschichte wissen, die sich hier auf demselben Boden zugetragen hat, auf dem wir nun leichten Fußes entlang spazieren.

Weil wir nichts wissen, können wir uns auch nichts vorstellen.

Weil wir uns nichts vorstellen können, können wir auch nichts von dem spüren, was der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung beschreibt:

Historische Zeiten und historische Orte bilden dabei jene Berührungspunkte, an denen moderne Subjekte von der Kraft der Geschichte ergriffen werden – im Negativen wie im Positiven. Auch und gerade Menschen, welchen der Gedanke der ‚Selbsttranszendenz‘ suspekt und die Sehnsucht nach Resonanz (nicht zuletzt aus historischen Gründen) womöglich geradewegs gefährlich erscheint [...], machen vielleicht auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau die Erfahrung, mit unwiderstehlicher Wucht überwältigt, bis in ihr innerstes Mark ergriffen, berührt oder besser aufgewühlt zu werden – sie machen eine Erfahrung der Selbsttranszendenz die sie selbst verändert; sie vernehmen den Ruf, der Konsequenzen hat, sie fühlen sich gemeint. [...] Das Bewusstsein Hier war es! Scheint ihnen einen inneren Zugang zum historischen Geschehen zu ermöglichen, so als eröffnete der Ort einen geheimen Zeittunnel, durch den eine transhistorische Verbindung geschaffen und der Strom der Geschichte wahrnehmbar werde.“

Doch uns Spaziergänger:innen öffnet sich kein solcher Zeittunnel. Der Wald und die Felder werden nicht zu Berührungspunkten. Wir fühlen uns nicht gemeint. Unser Gefühl der Resonanz hat mehr mit dem Rauschen der Blätter und der weichen Erde zu tun, auf die wir unsere Füße setzen.

Stellen wir uns nun aber vor, unser ziellos herumschweifender Blick fiele plötzlich auf einen Stein, der am Waldrand steht. Auf dem Stein lesen wir die Inschrift: „In diesem Wald lagerten im April 1945 tausende Häftlinge der KZ Sachsenhausen und Ravensbrück. Hunderte wurden hier von den Faschisten ermordet.“ Plötzlich verändert sich der Wald. Was gerade noch friedlich und sicher schien, wird nun unheimlich. Wir sind nicht mehr allein auf diesem Weg. Wir befinden uns mit einem Mal in einem Zustand der Ko-Präsenz. Vergangenheit und Gegenwart sind plötzlich gleichzeitig anwesend. Das Wissen um die historischen Ereignisse, die sich genau hier abgespielt haben, wo wir jetzt – 76 Jahre später – spazieren gehen, konstituiert gemeinsam mit der Gegenwart des Ortes eben jene Berührungspunkte, von denen Rosa spricht. Wissen, Vorstellung und Raumerfahrung verwandeln den Wald in das, was Rosa als „in besonderem Maße gleichsam historisch aufgeladene Resonanzorte“ beschreibt. Jetzt öffnet sich der Zeittunnel, der uns nicht nur eine Verbindung mit dem Jahr 1945 herstellt, sondern auch mit den für uns entfernten Orten, die eben noch nicht auf unserer mentalen Landkarte standen, den ehemaligen Lagern und heutigen Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück, verbindet.

Mediale Erweiterung

Was wir oft selbstverständlich als „authentische“ oder „historische“ Orte bezeichnen, ermöglicht uns meist erst durch Formen medialer Erweiterung – durch einen Gedenkstein, eine Tafel oder den Bericht einer Zeugin – Kontakt zur Vergangenheit herzustellen, die sich zwar in diese Orte eingeschrieben hat, deren Spuren aber mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen sind, die ein archäologisches Gespür oder forensische Methoden voraussetzen, um sichtbar zu werden. Geschichte ist an diesen Orten geschichtet, und diese Schichten, insbesondere die Zeit- und Erfahrungsschichten, benötigen bestimmte Techniken der Sichtbarmachung, um ein (Vor-) Wissen zu generieren und dadurch Resonanz zu ermöglichen.

Gedenkstätten werden also zu „historisch aufgeladene[n] Resonanzorte[n]“ erst durch Erweiterungen. Solche erweiterten Orte  (link) können entweder mit Hilfe entsprechender medialer Arrangements – Ausstellungen, Führungen oder Audioguides – die physische Präsenzerfahrung an diesen Orten um eine oder mehrere zeitliche Dimension erweitern und so einen Zustand der Ko-Präsenz von Vergangenheit und Gegenwart herstellen, oder sie können den geographischen Ort virtuell erweitern, um den Kontakt mit ihm auch aus der Distanz zu ermöglichen. Solche erweiterten Orte fungieren somit als Medien der Vermittlung von Geschichte – als Kontaktzonen oder Berührungspunkte – und werden zugleich durch mediale Arrangements ergänzt. Lev Manovich hat solche medialen Erweiterungen, zum Beispiel durch Architektur, Schilder, Displays oder Töne als „Augmented Space“, also als einen erweiterten Raum beschrieben. Neue technologische Entwicklungen auf dem Gebiet der 360°-Fotografie, der Virtual Reality (VR), des digitalen Mappings sowie der Augmented Reality (AR) ermöglichen heute die Erweiterung des physisch erfahrbaren Raumes mit Hilfe von digitalen Medien und mobilen Endgeräten. So entstehen virtuelle Erfahrungsräume, die einerseits an die historischen Orte und die dort angesiedelten Gedenkstätten gekoppelt sind, über diese aber andererseits mit Hilfe von digitalen Technologien und der Adressierung verschiedener Sinne hinausgehen.

Virtuelle Erinnerungsräume

Die hier geschilderten Möglichkeiten der erweiterten Orte sind die Basis der SPUR.lab Forschung und der in diesem Rahmen entstehenden Prototypen.

Prototyp HORIZON - screenshot des ersten Testdummys

So ermöglicht es der Prototyp HORIZON, dass sich die Nutzer:innen mit verschiedenen historischen Orten und den darin eingeschriebenen Geschichten in Brandenburg in Beziehung setzen können. Mithilfe mobiler Endgeräte oder auch am Desktop entfaltet sich das Land als eine horizontal geschichtete Erinnerungslandschaft. HORIZON verbindet die Sichtbarmachung von Spuren, die Erklärung historischer Kontexte, die Vermittlung von Wissen und die Orientierung vor Ort, um gleichsam durch die gegewärtige Topographie hindurch blicken zu können. Die Mapping basierte AR Anwendung ist ein digitaler Blick auf den Horizont, an welchem Orte von NS Verbrechen erscheinen. Die reale Umgebung wird so in direkte Verbindung zu Tatorten gesetzt, die sich zwar an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager ballten, aber noch an vielen weiteren Orten in Brandenburg zu finden sind.

Der Prototyp VIDNESS zeigt die Möglichkeit der Sichtbarmachung von historischen Spuren durch zeitliche Erweiterung, die gleichsam einen Zustand temporärer Ko-Präsenz herstellt. Auf dem Gelände der Gedenkstätte Ravensbrück werden unterschiedliche 360°-Videos verortet. Diese bieten einen individuellen Blick auf Teile der Gedenkstätte, der Blick wird durch einen Voiceover geleitet. Es werden Bereiche des ehemaligen KZ Ravensbrück erläutert und mit historischen Fotos  und Zeichnungen in Verbindung gesetzt.

Prototyp VIDNESS - screenshot des ersten Testdummys

Beide Prototypen erweitern also die teilweise leeren, überbauten oder durch materielle Erweiterung überformten Orte und helfen dabei, diese in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Dies ist sowohl durch die direkte Augmentierung der Landschaft mit Hilfe von Mobiltelefonen oder aus der Distanz durch eine Webanwendung möglich, die die geschichteten Orte aus der Entfernung zugänglich macht.

Zugänge schaffen

Mit Hilfe digitaler Technologien werden historische Orte auch aus der Entfernung virtuell zugänglich, zerstörte oder nicht sichtbare Schichten durch computeranimierte Simulation erfahrbar und verschiedene Text- und Bildquellen sowie Zeugnisse ortsbezogen nutzbar. VR-Technologie lässt uns historische Orte sehen, die Besucher:innen im realen Raum verschlossen bleiben, weil sie sich beispielsweise jenseits des als Gedenkstätte genutzten Geländes befinden.

Prototyp Blackbox - screenshot aus dem Testdummy

Der Prototyp BLACKBOX skizziert ein virtuelles Modell des KZ Oranienburg, an welches heute nur noch ein Mauerstück und eine Gedenktafel in der Berliner Straße in Oranienburg erinnern. Die virtuelle Rekonstruktion historischer Bauten bewahrt die materiellen Zeugnisse und unterstützt gleichzeitig die historische Vorstellungskraft. Auch der Prototyp ZEITSCHICHTEN setzt da an, wo sichtbare Spuren der historischen Lagertopographie fehlen. Eine AR-Anwendung stellt als Animation den Aufbau, den Verfall und die Umgestaltung des Geländes des ehemaligen KZ Sachsenhausen dar. Das Lagergelände erweitert sich durch diese Form der Expanded Reality also sowohl räumlich als auch zeitlich, wobei die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Rekonstruktion und Präsenzerfahrung immer gewahrt bleibt.

Digitale Raumtechnologien helfen also dabei, Zugänge zu entfernten Orten oder Zeiten zu schaffen, bzw. verschiedene Zeit-Räume ineinander zu blenden und damit aufeinander zu beziehen. Sie machen es möglich, die historischen Orte mit weiteren Informationen anzureichern, die ansonsten nicht zugänglich wären, bzw. den virtuellen Raum als Zugang zum historischen Ort zu etablieren, der den Nutzer:innen die Möglichkeit gibt, sich darin weitgehend eigenständig zu bewegen und somit die historischen Orte und ihre Geschichte selbständig zu erkunden.

 

Ausblick

Erweiterte Orte eröffnen neue Verbindungen zur Vergangenheit, die Zugänge zur Geschichte der Shoah und den damit verknüpften persönlichen Geschichten und Erinnerungen ermöglichen. Mithilfe der beschriebenen digitalen Techniken kann Distanz überbrückt werden, inwieweit dies erfolgreich ist, bleibt immer an unsere individuelle Bereitschaft zur Begegnung und zur aktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gebunden. Damit historische Orte im Sinne Rosas zu „historisch aufgeladene[n] Resonanzorte[n]“ werden können, müssen sie bei uns Kontaktpunkte finden. Erst das Wissen (oder zumindest die Ahnung) über Vergangenheitsschichten, erst durch die Bereitschaft „Berührungspunkte“ zu erkennen und mit ihnen zu interagieren, werden sich virtuelle „Zeittunnel“ öffnen, durch die reale Orte erweitert, entfernte Orte miteinander in Beziehung gebracht und die zeitliche wie räumliche Distanz zur Vergangenheit und ihren topographischen Spuren überbrückt werden können. So könnte schließlich jeder Spaziergang zu einer Reise in die Vergangenheit werden.

Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Senior Lecturer für Visuelle Kultur, Film und Deutsche Kultur- und Sozialgeschichte an der Hebrew University Jerusalem. Er publiziert und forscht zu verschiedenen medialen Ausprägungen der Erinnerung an die Shoah, insbesondere zu Formen des filmischen und des digitalen Gedächtnisses.

Er ist wissenschaftlicher Experte im SPUR.lab Projekt.

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