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Geschichtsvermittlung digital? Ergebnisse der SPUR.lab Nutzungsstudien

Noch immer wissen wir wenig darüber, wie Nutzer:innen verschiedenen Alters und mit unterschiedlichem Vorwissen über die Zeit des Nationalsozialismus mit digitalen Geschichtsanwendungen interagieren und wie diese auf sie wirken. Für ein besseres Verständnis der Wahrnehmung von VR- und AR-Anwendungen im Kontext der Auseinandersetzung mit den Orten von NS-Verbrechen wurden im Rahmen des Projekts SPUR.lab zwei Nutzungsstudien durchgeführt.

Dies ist die längere Auswertung der Studien. Eine Zusammenfassung findet sich in der SPUR.lab Publikation

Wie können digitale Technologien dabei helfen, Geschichte zu erzählen? Erkenntnisse aus den Nutzungsstudien

Die erste Nutzungsstudie im September und Oktober 2022 nahm insbesondere die Usability der im Rahmen des Projekts entwickelten Ansätze in den Blick. Wie werden die Anwendungen genutzt? Wie sieht die Interaktion der Nutzer:innen aus? Wie bewerten sie selbst ihre Erfahrungen und die Wirkung der verschiedenen Anwendungen? Im Hinblick auf die mögliche Weiterentwicklung ging es dabei primär darum, das Potential der unterschiedlich weit entwickelten Prototypen auszuloten und weitere Einsichten in den Umgang mit digitalen Anwendungen zur Geschichtsvermittlung aus der Perspektive von unterschiedlichen Nutzer:innen zu bekommen. Dazu wurde ein methodischer Ansatz gewählt, der drei Komponenten umfasste. In einem ersten Schritt konnten die in unterschiedliche Testgruppen eingeteilten Teilnehmer:innen die vier Prototypen BLACK BOX, VIDNESS, HORIZON und ZEITSCHICHTEN individuell ausprobieren. Dabei wurde ihre Interaktion mit den Anwendungen beobachtet. Anzumerken ist, dass zu diesem Zeitpunkt lediglich zwei der Anwendungen, BLACK BOX und VIDNESS, in einem Zustand tatsächlicher Anwendbarkeit waren. HORIZON und ZEITSCHICHTEN konnten die Testpersonen nur modellhaft kennenlernen.

 

In einem zweiten Schritt wurden die Teilnehmenden gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. Der Fragebogen enthielt insgesamt 71 Fragen. Diese bezogen sich auf persönliche Angaben, Hintergrund und historisches Vorwissen, die Bewertung der Prototypen und eine allgemeine Einschätzung des Potentials digitaler Anwendungen für die Geschichtsvermittlung. Im Anschluss an den Fragebogen wurden mit den Teilnehmenden Gruppengespräche geführt, die sich an den untersuchten Fokusgruppen (Gedenkstätten und Museen, Freiwillige und Studierende, Schüler:innen und sonstige) orientierten.

Die Teilnehmer:innen der ersten Testreihe setzten sich nahezu paritätisch zusammen. Von den 47 Teilnehmenden beschrieben sich 48,9% selbst als weiblich, 51,1% als männlich. Eine deutliche Mehrheit war unter 30 Jahre alt (72,3%), die größte Altersgruppe waren die 16–19-Jährigen (55,3%), gefolgt von den 30–44-jährigen (19,1%). 8,5% der Teilnehmenden waren über 45 Jahre alt. Die größte Gruppe der Testpersonen waren Schüler:innen (44,7%), gefolgt von Gedenkstätten- und Museumsmitarbeiter:innen (34%) und Freiwilligen und Studierenden (17%).

Nach eigener Selbsteinschätzung attestierte sich die Mehrheit der insgesamt 48 Testpersonen ein sehr gutes Geschichtswissen. Lediglich 11 der befragten Teilnehmer:innen gaben an, ihre historischen Vorkenntnisse seien gering oder mittel. Die Selbsteinschätzung, ein großes bzw. umfassendes Geschichtswissen zu besitzen, war in der Gruppe der Schüler:innen am geringsten ausgeprägt, bei den Mitarbeiter:innen von Gedenkstätten und Museen am größten.

Eine deutliche Mehrheit von 66,5% der Teilnehmenden hatte bereits eine oder mehrere Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager besucht. In der Altersgruppe der 16–29-Jährigen waren es sogar 70,6%, die bereits einen solchen Gedenkort besucht hatten. Gedenkstätten und Museen sind im Vergleich auch die wichtigsten Institutionen für Geschichtsvermittlung (87%), gefolgt vom Schulunterricht (80,4%). Im Durchschnitt haben Bücher (69,6%) für die Teilnehmer:innen dieser Studie noch immer eine größere Bedeutung als z.B. Filme (65,2%) oder soziale Medien (58,7%). Bei den Schüler:innen kehrt sich dieses Bild allerdings um. Für sie sind soziale Medien wichtiger als Bücher. Gespräche mit Zeitzeug:innen wurden nur von 30,4% als wichtige Quelle für ihre Vorkenntnisse über die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust angegeben.

Die von den Testpersonen bisher am meisten für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus genutzten digitalen Anwendungen sind Websites, Onlinearchive und soziale Medienplattformen. Dies deckt sich mit bekannten Annahmen zum Nutzungsverhalten: Internet und soziale Medien gelten als die am weitesten verbreiteten Medienumgebungen. Die meisten der im Rahmen von SPUR.lab genutzten Technologien sind den Testpersonen hingegen nur wenig bekannt. Nur eine Minderheit verwendet häufig VR-Anwendungen. Die Erfahrungen mit AR-Anwendungen sind sogar noch geringer. Bei den 16–29-Jährigen zeigen sich nur geringfügige Unterschiede. Hier gibt es zwar etwas mehr Erfahrungen mit VR-Anwendungen, dafür werden aber AR-Anwendungen deutlich seltener genutzt als im Durchschnitt. 360° Videos werden zumindest von mehr als der Hälfte der Testpersonen manchmal benutzt. Hier liegt die durchschnittliche Nutzung ebenfalls etwas höher als bei der jüngeren Nutzer:innengruppe. Interaktive Karten werden am häufigsten verwendet, auch wenn insgesamt weniger Teilnehmende Erfahrungen mit diesem Format gemacht haben als mit 360° Videos.

In einem Fokusgruppengespräch mit Gedenkstättenmitarbeiter:innen wurde unter anderem betont, dass die Anwendungen sehr vielfältig seien und verschiedene Altersschichten ansprechen. Allerdings wurde auch angemerkt, dass es nicht immer leicht gewesen sei, sich in den Anwendungen zurechtzufinden. Dennoch wünschte sich eine deutliche Mehrheit der Teilnehmenden der ersten Studie mehr virtuelle und digitale Anwendungen in Museen und Gedenkstätten. Diese Zahl variiert nur geringfügig bei den jüngeren Teilnehmer:innen. Hier ist jedoch die Anzahl derjenigen höher, die sich solche Anwendungen “auf jeden Fall” wünschen.

Bei der Frage, ob die getesteten Anwendungen als Alternative zum Geschichtsbuch dienen könnten, sind die Teilnehmer:innen der Studie hingegen gespalten. Nur 50% bejahen diese Frage eher. Allerdings ist der Anteil der unbedingten Zustimmung bei den jüngeren Testpersonen höher als im Durchschnitt. Eine deutliche Mehrheit sieht allerdings in digitalen und virtuellen Anwendungen zur Geschichtsvermittlung eine sehr gute Ergänzung zum Geschichtsunterricht. Bei den jüngeren Teilnehmer:innen fand diese Frage sogar noch eine etwas größere Zustimmung. Im Fokusgruppengespräch äußerten Schüler:innen die Einschätzung, dass virtuelle und digitale Anwendungen eine gute Ergänzung darstellen, andere Formen der Geschichtsvermittlung aber nicht ersetzen könnten. Der Besuch vor Ort oder der Geschichtsunterricht hätten einen anderen Wert. Teilnehmende eines Fokusgruppengesprächs mit Freiwilligen und Studierenden verwiesen darauf, dass die Anwendungen dabei helfen könnten, Interesse zu vertiefen. Insbesondere junge Generationen würden mit digitalen Möglichkeiten leichter angesprochen.

Die zweite Nutzungsstudie der zwischenzeitlich weiterentwickelten SPUR.lab Prototypen fand im September 2023 am historischen Ort in der Gedenkstätte Sachsenhausen mit einer kleineren Testgruppe (n=12) statt. Die Teilnehmer:innen testeten zunächst alle vier Anwendungen und beantworteten dann einen Fragebogen mit insgesamt 66 Fragen zum persönlichen Hintergrund, technischem und historischem Vorwissen, den Prototypen und zur allgemeinen Einschätzung des Potentials digitaler Anwendungen für die Geschichtsvermittlung. 50% der Testpersonen definierten sich selbst als weiblich, 33,3% als männlich und 16,7% als divers. Die Altersstruktur war deutlich durchmischter als in der ersten Testphase, dennoch waren auch hier zumindest die Hälfte der Teilnehmer:innen unter 30 Jahre alt. Die größte Gruppe war 20-29 Jahre alt (33.3%). Die übrigen Altersgruppen der 30-44 und 45–59-Jährigen sowie der über 60-Jährigen machten jeweils 16,7% der Nutzer:innengruppe aus.

Die deutliche Mehrheit von insgesamt 83,34% beschrieb ihr Vorwissen als eher umfassend oder umfassend. Nur ein:e Teilnehmer:in hatte zuvor „noch nie“ eine NS-Gedenkstätte besucht. Die Mehrheit (75%), viele selbst Mitarbeiter:innen von Gedenkstätten oder Freiwillige, waren bereits „oft“ oder „sehr oft“ an Orten zur Erinnerung an die NS-Verbrechen. Entsprechend wurden Gedenkstätten von der Mehrheit als wichtigste Institutionen zur Vermittlung von Vorkenntnissen über die NS-Geschichte benannt (91,67%) anders als in der ersten Testreihe rangierten Bücher und Forschungsliteratur dieses Mal vor der Schule. Soziale Medien (25%) spielten für diese Teilnehmer:innen anders als Filme (58,33%) nur eine sehr geringe Rolle für die Geschichtsvermittlung.

Obwohl ein Drittel der Testgruppe die SPUR.lab Prototypen bereits in der Vergangenheit genutzt hatte, gab es nur geringe Vorerfahrungen mit VR- und AR-Anwendungen sowie 360° Videos. Lediglich interaktive Karten hatte eine deutliche Mehrheit der Teilnehmer*innen bereits „oft“ oder „sehr oft“ verwendet. Dennoch erklärte eine Mehrheit von 91,67%, sich mehr virtuelle und digitale Anwendungen für Gedenkstätten und Museen zu wünschen.

Geschichte zugänglich machen – Reaktionen auf die SPUR.lab Prototypen

„Die VR ist besser, anschaulicher, und macht mehr Spaß. Man kann sich selbst umschauen. Das hat sich sehr real angefühlt,“ erklärte ein:e Schüler:in die Faszination an der VR-Anwendung der BLACK BOX in einem der Fokusgruppengespräche. Fast die Hälfte der unter Dreißigjährigen meinte, die Anwendung helfe dabei das historische Geschehen besser zu verstehen. Nur 29,4% zweifelten daran. Derselbe Anteil aus dieser Altersgruppe fühlte sich durch die VR-Anwendung in die Vergangenheit versetzt. Eine Mehrheit von 53% erklärte, die BLACK BOX hätte ihnen die Geschichte des KZ Oranienburg nähergebracht.

Dieser Eindruck der jüngeren Nutzer:innen spiegelte sich auch in der Einschätzung der Gesamtgruppe wider. Mehr als der Hälfte hatte die Anwendung die Geschichte des KZ Oranienburg nähergebracht und dabei geholfen, diese besser zu verstehen. Allerdings hatte nur etwas über ein Viertel der Testpersonen den Eindruck, in die Vergangenheit versetzt worden zu sein.

Ein Grund dafür könnte die eher abstrakte Gestaltung des 3D Modells sein, das die Nutzer:innen anhand der Beschreibungen des ehemaligen Häftlings Gerhart Seger erkunden. Allerdings waren die Teilnehmehmenden der ersten Testreihe in ihrem Eindruck gespalten. Für 34,1% eröffnete die virtuelle Umgebung eine eher räumliche Erfahrung, während sie sich für 31,9% eher abstrakt gestaltete. Gegen eine zu starke immersive Wirkung der Anwendung spricht die Tatsache, dass nur 6,4% der Teilnehmer:innen ihre Perspektive während der Anwendung als die von Seger beschrieben. 48,9% empfanden sie als „meine eigene“ und 44,7% sahen sich in einer neutralen Beobachter:innenposition. Dennoch konnte eine deutliche Mehrheit von 65,9% dem Zeugnisbericht Segers intensiv folgen. In der zweiten, allerdings deutlich kleineren, Testgruppe stieg dieser Anteil noch weiter auf 75%.

Bei der zweiten Studie mit der weiterentwickelten Anwendung, die unter anderem um eine Einführung ergänzt wurde und deren Navigation und Sounddesign verbessert worden war, verstärkte sich der Eindruck noch, das historische Geschehen durch BLACK BOX besser zu verstehen, bzw. sich mit ihrer Hilfe der Geschichte des KZ Oranienburg angenähert zu haben.

Die Hälfte der zweiten Testgruppe war sogar der Meinung, die VR-Anwendung könne einen Besuch vor Ort ersetzen. Dies war noch ein Jahr zuvor von 70,2% verneint worden. Eine überwiegende Mehrheit von 83,33% der zweiten Testgruppe war sich indes einig, dass BLACK BOX dazu geeignet sei, einen Besuch vor Ort zu ergänzen. Die Hälfte der Teilnehmenden sahen dies sogar „auf jeden Fall“ als gegeben an.

 

Bei den übrigen Prototypen überwog auch in der zweiten Testgruppe die Skepsis, dass durch virtuelle und digitale Anwendungen ein Besuch vor Ort ersetzt werden könnte. Bei der ersten Testreihe war die Zustimmung ähnlich gering ausgefallen.

Die lediglich der zweiten Testgruppe gestellte Frage, ob die Anwendungen einen Besuch vor Ort ergänzen könnten, wurde jedoch für alle vier Prototypen positiv beantwortet. Die größte Zustimmung erhielt dabei VIDNESS, eine App, die Interviews, Perspektiven auf historische Orte und Spuren der NS-Vergangenheit in 360° Videos vor Ort oder über eine Kartenansicht zugänglich macht. „VIDNESS war sehr interaktiv,“ erklärte ein:e Nutzer:in in einem gemischten Fokusgruppengespräch der ersten Testreihe. „Man schaut nicht nur in die Vergangenheit, sondern die Anwendung ist vielschichtiger, z.B. thematisiert sie auch das Gedenken. Es gibt viele verschiedene Perspektiven.“ In den Fokusgruppengesprächen und in den Kommentaren zum Fragebogen wurde mehrfach der Mehrwert der 360° Dokumentationen hervorgehoben; sie verbänden den historischen Ort mit der Gegenwart und ermöglichten eine Auseinandersetzung mit den Formen des Gedenkens.

Die Videos wurden von den Nutzer:innen überwiegend „erweiternd“ wahrgenommen. 39,1% der ersten Testreihe und 41,67% der zweiten Gruppe stimmten dieser Einschätzung zu. Weitere 45,7% der ersten Testreihe und 58,33% der zweiten Testgruppe schätzten die Videos als „eher erweiternd“ ein. Besonders intensiv erlebten die Nutzer:innen der zweiten Testgruppe das Zuhören und die Interaktion (jeweils 33,33%). 72,3% der ersten Testreihe erklärten, sie hätten sich eigenständig umgesehen. Die Anwendung ermöglicht also einen hohen Grad der Interaktion und durch die Verbindung von 360° Videos und Ton auch der Immersion. 63,9% der Teilnehmer:innen aus der ersten Testreihe hat die Anwendung die Gedenkstätte Ravensbrück und das dortige Gedenken entsprechend nähergebracht. 23,9% fühlten sich gar in die Vergangenheit versetzt. Ein Jahr später gaben dies sogar 33,33% an. Alle Teilnehmer:innen der zweiten Testgruppe waren sich einig, dass VIDNESS ihnen die Gedenkstätte Ravensbrück nähergebracht habe, 16,67% der Teilnehmer:innen stimmten dieser Aussage „voll und ganz“ zu.

 

Ein Jahr zuvor waren rund zwei Drittel der Befragten unsicher darüber, wie sehr die Anwendung einen Zugang zum historischen Ort und seiner Geschichte schaffen könne. Ähnlich hoch war hingegen auch in dieser Gruppe zu Zustimmung dazu, dass VIDNESS dabei helfe, das historische Geschehen besser zu verstehen. Allerdings war in der ersten Studie die Gruppe derjenigen etwas ausgeprägter, die dies „sehr stark“ bejahten. Ein noch eindeutigeres Bild zeigt sich bei der Gruppe der unter 30-jährigen in der ersten Testreihe.

 

Hier sehen 64,7% das Potential der Anwendung dabei zu unterstützen, das historische Geschehen besser zu verstehen, obwohl sich VIDNESS anders als die anderen Prototypen viel stärker auf die Gegenwart des historischen Ortes bezieht. Lediglich 5,8% zweifeln an diesem Potential. „Bei VIDNESS konnte man sich selbst aussuchen, wo man hinschaut. Man sieht Dinge vom Gelände und entdeckt Details,“ erklärt ein:e Teilnehmer:in im Fokusgruppengespräch den Reiz der Anwendung und betont dabei auch ihren Wert für die Geschichtsvermittlung: „Die Anwendung regt auf jeden Fall zur Beschäftigung an. Sie eignet sich gut zur Vorbereitung eines Besuchs, weckt Neugier und lebt von einem hohen Wiedererkennungswert.“

Obwohl für die erste Nutzungsstudie noch nicht voll entwickelt, regte auch die App HORIZON zur Neugier an, wie ein:e Teilnehmer:in des Fokusgruppengesprächs mit Freiwilligen und Studierenden betonte. Mit Hilfe der Anwendung werde „Geschichte erfahrbar“. Der Ansatz, die Lebenswelt der Nutzer:innen mit historischen Informationen zu überlagern, wurde überwiegend positiv bewertet. Rund 70% der Befragten fanden diese Überlagerung informativ, ein Anteil, der sich auch in der zweiten Studie ein Jahr später wiederholt. Teilnehmer:innen dieser Studie erlebten vor allem das Sehen (54,55%) und das Interagieren (45,45%) besonders intensiv erlebt. Die Mehrheit der Nutzer:innen verwendete dabei die Kartenansicht (54,55%), um Informationen über historische Orte von NS-Verbrechen und die Biographien von Betroffenen zu finden. 36,36% haben sich insbesondere mit den Lebensgeschichten von Betroffenen auseinandergesetzt und vor allem diese Ansicht verwendet.

 

Eine deutliche Mehrheit von mehr als 70% hatte den Eindruck durch die App das historische Geschehen besser zu verstehen. Dazu wird das Zusammenspiel von Orten und Lebensgeschichten und damit verbundenen Informationsquellen entscheidend beigetragen haben, die die Nutzer:innen selbständig navigieren können. Diese Aktivierung und die Überlagerung der Gegenwart mit weiteren Informationsebenen wird auch dazu geführt haben, dass das Gefühl, in die Vergangenheit versetzt zu werden, bei HORIZON eher gering ausgeprägt war. Mehr als 80% stimmten dieser Aussage eher oder gar nicht zu. Allerdings hat HORIZON allen Teilnehmenden der zweiten Studie die Geschichte des NS in Brandenburg näherbringen können. 45,45 stimmten dieser Aussage „voll und ganz“ zu. In der ersten Studie waren es knapp 30%, die dieser Einschätzung sehr stark oder eher zustimmten. Die deutliche Mehrheit war unentschieden.

Die AR-Anwendung ZEITSCHICHTEN konnte bereits in ihrer in der ersten Studie eingesetzten modellhaften Form rund die Hälfte der Teilnehmenden davon überzeugen, auf diese Weise die Zeitschichten des KZ Sachsenhausen und das historische Geschehen besser zu verstehen. Diese Zahl stieg in der zweiten Studie noch deutlich. 72,73% half die virtuelle Visualisierung historischer Strukturen und Dokumente im Gelände der Gedenkstätte, das historische Geschehen besser zu verstehen. Mehr als 80% konnte die Anwendung die Zeitschichten der Gedenkstätte näherbringen. Allerdings dominierte für die Mehrzahl der Nutzer:innen die Präsenzerfahrung. 54,54% bekannten, die Anwendung habe sie nicht in die Vergangenheit versetzt. Dieser Eindruck ist bei einer AR-Anwendung, die Vergangenheitsschichten auf einem mobilen Gerät in einer gegenwärtigen Umgebung zugänglich macht, erwartbar, wenn nicht sogar intendiert. Überraschend ist eher die relativ hohe Zahl von 45,45%, bei denen ein Vergangenheitseindruck dominierte.

 

Ein Grund für diesen relativ starken Vergangenheitseindruck, der such auf intensivierte Immersionserfahrung schließen lässt, könnte im intensiv erlebten Sehen liegen. 54,55% der Teilnehmenden der zweiten Studie betonten die Intensität visuellen Erlebens, während lediglich 9,09% das Zuhören als besonders intensiv empfanden, obwohl der Kommentar von 90% als gut verständlich wahrgenommen wurde. Noch etwas stärker war allerdings die Zustimmung zu den Animationen ausgeprägt, die die früheren Lagerstrukturen in Form von Barackenumrissen oder angedeuteten Personen zugänglich machen. In der ersten Studie waren es noch 60% gewesen, die die, lediglich modellhaft angedeuteten, Animationen als besonders hilfreich wahrgenommen hatten.

Insgesamt empfanden die Teilnehmenden der zweiten Studie die Überlagerung von heutigen und historischen Strukturen, Fotografien und Zeichnungen als informativ. Rund 91% stimmten dieser Aussage zu. Ein Jahr zuvor waren die Nutzer:innen ebenfalls mehrheitlich von der Kopräsenz von Vergangenheit und Gegenwart überzeugt gewesen. Allerdings lag die Zustimmung bei der ersten Nutzungsstudie bei rund 70%. 20% waren noch unentschieden gewesen.

Zusammenfassung

Während in der ersten Testreihe (n=67) 79,5% der Teilnehmenden erklärten, sie wollten BLACK gerne in weiterentwickelter Form noch einmal nutzen, gab dies in der zweiten Testgruppe (n=12) nur noch ein Drittel an. 75% wünschten sich hingegen VIDNESSnoch einmal anzuwenden, gefolgt von HORIZON (66,67%) und ZEITSCHICHTEN (58,33%). In der ersten Testreihe hatten 65,9% angegeben, VIDNESS noch einmal verwenden zu wollen. 38,6% hatten sich die Weiterentwicklung von ZEITSCHICHTENund 31,8% von HORIZONgewünscht. Insgesamt zeigte sich im zweiten Test eine sehr hohe Zustimmung zu den entwickelten Prototypen. Mehr als 80% der Teilnehmenden zeigten sich von ZEITSCHICHTENüber 70% von HORIZON, 75% von VIDNESS und rund 66% von BLACKBOX (8,33% ohne Angabe).

 

Im Vergleich zur ersten Nutzungsstudie haben die weiterentwickelten Prototypen insgesamt zu einem noch positiveren Eindruck geführt, insbesondere im Fall von HORIZON und ZEITSCHICHTEN, die ein Jahr zuvor lediglich als modellhafte Skizzen zugänglich waren. Insgesamt bestätigte sich vor allem das Potential aller Prototypen, Besuche an historischen Orten wirksam zu ergänzen.

 

Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Associate Professor für Visuelle Kultur, Film und Deutsche Kultur- und Sozialgeschichte an der Hebrew University Jerusalem. Er publiziert und forscht zu verschiedenen medialen Ausprägungen der Erinnerung an die Shoah, insbesondere zu Formen des filmischen und des digitalen Gedächtnisses.

Er ist wissenschaftlicher Experte im SPUR.lab Projekt.

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