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Beutelsbach zweipunktnull? Geschichtsvermittlung und digitale Revolution

 

Ein Essay von Kurt Winkler

Im Herbst 1976 kamen auf Einladung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Bildungsforscher:innen aus der ganzen Bundesrepublik im idyllischen Weinort Beutelsbach bei Stuttgart zusammen, um über Ziele und Selbstverständnis politischer Bildung in der Demokratie zu diskutieren. Hintergrund der Debatte war der erbitterte Streit um Inhalte und Methoden gesellschaftskundlichen Unterrichts in den Schulen, in dem konservative und linksliberale Positionen der Schulpolitik der westdeutschen Bundesländer aufeinander trafen. Ein Mitarbeiter der baden-württembergischen Landeszentrale, Hans-Georg Wehling, hat die Ergebnisse des Expertengesprächs 1977 in einer thesenartigen Zusammenfassung publiziert, die seither als „Beutelsbacher Konsens“ ihre Wirkung insbesondere im Bereich der Geschichtspädagogik entfaltet1. Kurz gefasst beinhaltete der Text drei Grundsätze, die ausdrücklich als „Minimalkonsens“ verstanden wurden: Erstens das „Überwältigungsverbot“, dem zufolge Schüler:innen nicht politisch indoktriniert, sondern zum selbständigen Urteil befähigt werden sollen; zweitens das Gebot der Multiperspektivität, das heißt der Darstellung kontroverser Positionen unabhängig vom persönlichen Standpunkt und der politischen Meinung des Lehrenden; und schließlich drittens das Ziel der politischen Mündigkeit, nach dem Schüler:innen ermächtigt werden, ihre Interessen zu artikulieren und in den politischen Raum einzubringen. Es ist naheliegend, dass diese aus der westdeutschen politischen Kultur „nach ’68“ erwachsenen Leitlinien auch nach 1990 in den sogenannten neuen Ländern den Referenzrahmen politischer Bildungsarbeit darstellten, um der jahrzehntelangen Praxis politischer Indoktrination der Schule in der DDR einen demokratisch-pluralistischen Neubeginn entgegenzusetzen.

Besondere Bedeutung und Aktualität bis heute kommt dem Beutelsbacher Konsens, unabhängig von Ost-West-Fragen, im Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und für die Museums- und Gedenkstättenpädagogik zu. Denn gerade hier, an den authentischen Dokumenten und Orten politischer Verfolgung und in der Begegnung mit Opfern und Zeitzeugen, stellen Überwältigungsverbot und Neutralitätsgebot eine komplexe pädagogische und psychologische Herausforderung dar. Spricht man mit Guides, die täglich Schulklassen, Besuchergruppen, Nachfahren von Opfern über ein KZ-Gelände führen, so tritt vor allem die Problematik der Imagination, der Empathie und der Identifikation zu Tage. „Wie muss sich ein Häftling hier gefühlt haben?“ „Wie hätte ich mich verhalten?“ - verantwortliche Pädagogik gibt diesen naheliegenden Fragen Raum und Sprache, ohne sie emotional zu forcieren oder gar politisch zu instrumentalisieren. Aber den didaktisch richtigen, den historiografisch zutreffenden und auch den der Würde von Opfern angemessenen Weg zwischen Distanz und Emotion zu finden, bedeutet für die konkrete Situation eines Ausstellungsbesuchs eine vielschichtige Anforderung, die auch Dimensionen umfasst, die in den knappen Formulierungen der Beutelsbacher Grundsätze nicht berücksichtigt sind. Dies gilt vor allem für den Medieneinsatz in der Museums- und Gedenkstättenpädagogik. Im Text von Wehling wird dazu nur postuliert: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern.“ Die Verwendung von Quellentexten, Kunstwerken, Fotos und Filmen oder Audiodokumenten ist aber für das historische Verstehen unabdingbar und hat nicht nur eine kognitiv-kontextualisierende, sondern auch eine unmittelbar berührende, emotionale Wirkung. Diese ist keineswegs per se mit „Überrumpelung“ gleichzusetzen, sondern entspricht zunächst einem psychologischen Grundbedürfnis nach Empathie, ohne die wir nicht in der Lage wären, uns als Individuen in Relation zu Anderen zu begreifen, auch zu Anderen, die vor uns gelebt haben.

Allerdings ist die „Übermacht der Bilder“ im historischen Narrativ groß und so alt wie die Kunstgeschichte. „Si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi - Willst du mich zu Tränen nötigen, so mußt du selbst zuvor das Leid empfinden“, konstatiert der römische Dichter Horaz in seiner im Jahr 14 v.u.Z. verfassten „ars poetica“. Von hier aus reicht eine ununterbrochene Tradition der auf Nachempfinden gegründeten Wirkungsästhetik bis heute, von Bachs „Matthäus-Passion“, Goyas „Desastres de la guerra“ oder Picassos „Guernica“ bis zur Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ (1928) und dessen gleichnamiger Verfilmung des Regisseurs Edward Berger (2022), die mit vier Oscars ausgezeichnet wurde. Auch historische Bildungsarbeit sieht sich der Versuchung ausgesetzt, so wirkmächtige Bilder einzusetzen. Sie bewegt sich - sofern sie sich als Teil einer demokratisch-pluralistischen Wissensgesellschaft begreift, und nicht als ideologisches Werkzeug - auf dem schmalen Grat zwischen Empathie und Manipulation.

Existierte diese Ambivalenz auch vor dem Siegeszug der digitalen Medien, so stellen digitale Vermittlungsformate, wie sie seit etwa 20 Jahren mit stetig zunehmender technologischer Dynamik und ästhetischer Perfektion Einzug in Museen, Gedenkstätten und Ausstellungen halten, für die Geschichtsvermittlung zugleich Potenzial und Provokation dar. Angesichts aktueller „immersiver“ Praktiken, die die virtuelle Begegnung mit Zeitzeugen ebenso ermöglichen, wie VR-Besuche von Konzentrationslagern, stellt sich umso mehr die Frage nach den Grenzen des pädagogisch Erlaubten innerhalb der Entgrenzung einer Technik, deren Triebfeder kommerziellen Medienanwendungen wie beispielsweise der Gaming-Industrie entstammt. Liegt es nicht nahe, alle medialen Möglichkeiten auszuschöpfen, insbesondere um die "digital natives“ der jüngeren Generation mittels virtueller Zeitzeugen anzusprechen, deren Aussagen mittels künstlicher Intelligenz aus Tausenden von Interviewstunden situationsbezogen generiert werden? Was ist daran verkehrt, nicht mehr existierende, aber in Fotos und Berichten dokumentierte Häftlingsbaracken ebenso digital erlebbar zu machen, wie die Welt der Dinosaurier oder das Florenz der Medici in Computerspielen?

Sind die Grundsätze des vor annähernd fünf Jahrzehnten, im „prädigitalen“ Zeitalter, formulierten Beutelsbacher Konsenses - Überwältigungsverbot, Multiperspektivität und Erziehung zur Mündigkeit - noch zeitgemäß? Oder sind diese Prinzipien demokratischer Bildungsarbeit gerade angesichts der neuen medialen Praktiken, der Verschmelzung von analogem und digitalem Raum, der viralen Verbreitung von fake news, heute wichtiger denn je? Gerade im Hinblick auf den Nationalsozialismus macht sich im digitalen Raum von Seiten rechtsradikaler und identitärer Bewegungen ein Diskurs der Relativierung, Verharmlosung, Glorifizierung breit, die den in Beutelsbach angestellten Überlegungen große Aktualität verleiht. Waren es 1976 die Erfahrungen der Faschismus-Aufarbeitung in der reformbereiten bundesrepublikanischen Gesellschaft, die diese Selbstverständigung der historischen Bildungsarbeit hervorbrachten, so lohnt sich heute eine Re-Lektüre von „Beutelsbach“ im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen digitaler Formate. Dabei bietet die digitalen Kultur eine Reihe von spannenden Ansatzpunkten: die Möglichkeit der Partizipation und der vernetzten Erinnerungsarbeit, die Unabhängigkeit vom konkreten Raum und Objekt, die Integration eines unbegrenzten Fundus an Wissen, neue ästhetische Formen, die hergebrachte Interpretationen und verkrustete Gedenkrituale in Frage stellen können. Das Experiment SPUR.lab hat gezeigt, dass wir uns mitten in einem dynamischen, kreativen und umkämpften Prozess digitaler Neuinterpretation historischer Bildungsarbeit befinden.

1Hans-Georg Wehling: Konsens а la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 173–184. Der Wortlaut des Beutelsbacher Konsenses ist u.a. dokumentiert unter: Bundeszentrale für Politische Bildung: Beutelsbacher Konsens, https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens (Stand: 05.10.2023)

Kurt Winkler ist Kunsthistoriker, Kurator und Kulturmanager. Er forscht und publiziert zu Themen der Berliner und Brandenburger Kulturgeschichte und zur Geschichte und Theorie des Museums sowie den Konsequenzen der Digitalisierung im Museumskontext.

Er ist wissenschaftlicher Experte im SPUR.lab.

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