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Digitale Immersion? Was wir aus SPUR.lab gelernt haben

Gemeinsam blicken Kurt Winkler (KW), Tobias Ebbrecht-Hartmann (TEH) und Matthias Heyl (MH) auf die Diskurse im SPUR.lab zurück  - und diskutieren Herausforderungen und Chancen digitaler Zugänge in der Vermittlung von NS-Geschichte. 

Der gesamte Artikel ist erschienen in der SPUR.lab Publikation vom November 2023. 

KW: Im SPUR.lab konnten wir uns mit digitalen Methoden der Geschichtsvermittlung beschäftigen, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch praktisch durch die Entwicklung von Prototypen. Dabei haben wir uns konkret mit der Geschichtslandschaft Brandenburg befasst, den Stätten von Verfolgung und Terror während des Nationalsozialismus. Schon bei den ersten Diskussionen trat eine Ambivalenz zu Tage, die ich als produktives Unbehagen im Umgang mit digitalen Anwendungen im speziellen Feld der NS-Geschichtspädagogik bezeichnen möchte: Da sind auf der einen Seite die sich rapide entwickelnden technischen und ästhetischen Möglichkeiten, die unsere Spielräume erweitern. Und da gibt es auf der anderen Seite die auf Bewahrung und gesellschaftliche Verantwortung gerichtete Grundhaltung von Museen und Gedenkstätten, die sich unter anderem in der zentralen Stellung der Vermittlungsethik ausdrückt. Die Priorität in der historischen Bildungsarbeit scheint mir oft auf dem „Was“ zu liegen, ds „Wie“ ist dem untergeordnet.

MH: Da muss ich kurz widersprechen: in der Gedenkstättenpädagogik, die ein professionelles diskursives Feld ist, gibt es eine Tradition, neben dem „Was“ der historisch-politischen Bildung auch das „Wie“ zu fokussieren. Mir scheint es, als gebe es in Museen und Gedenkstätten oft eine seltsame Trennung, durch die „Wissenschaftler:innen“ und „Bildungsarbeiter:innen“ einander etwas „verkennen“. Bildungsarbeit basiert auf Wissenschaft – diese setzt sich mit Methoden und Techniken der Vermittlung und Aneignung von Wissen auseinander. Allerdings haben Gedenkstättenpädagog:innen häufig eher einen fachwissenschaftlichen, historiographischen oder politikwissenschaftlichen Hintergrund, wenige kommen mit einem bildungswissenschaftlichen Studium daher. Was dem Niveau der gedenkstättenpädagogischen Diskurse in der Realität nicht unbedingt schadet.

Mich hat beeindruckt, wie im SPUR.lab die unterschiedlichen Disziplinen sehr fruchtbar miteinander in den Dialog getreten sind. Anfangs waren das die Leitungen der Häuser, ihre Mitarbeiter:innen im Bildungsbereich, und die „Tekkies“ aus dem Bereich der Medien, die miteinander ausgehandelt haben, „was geht“ und was es braucht, um neue mediale Formen der Annäherung an die Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen zu entwickeln.

TEH: Daraus folgte eine produktive Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven. Als Medienwissenschaftler, der sich intensiv mit der Erinnerung an den Holocaust beschäftigt und dabei eng mit Gedenkstätten zusammengearbeitet hat, habe ich selten so produktive Möglichkeiten vorgefunden, diese Perspektiven zusammenzudenken wie im SPUR.lab. Normalerweise formulieren Gedenkstätten Anforderungen an z.B. digitale Anwendungen und versuchen diese dann mit Hilfe von Softwareentwicklern umzusetzen. Oder technische Anbieter konzipieren etwas, das dann in Gedenkstätten eingesetzt werden soll. Aber wie kann man erinnerungskulturelle und pädagogische Anforderungen formulieren, wenn man die technischen Grundlagen nicht kennt? Und wie soll man digitale Anwendungen entwickeln, wenn man dies nur aus technologischer und nicht auf Grundlage von historischem Wissen und erprobten kuratorischen und pädagogischen Konzepten machen kann. Im SPUR.lab wurde dieses Prinzip umgekehrt. Hier stand die Begegnung verschiedener Perspektiven und Erfahrungen am Anfang.

MH: Wir haben interdisziplinär diskutiert und aus unserer jeweiligen Fachdisziplin heraus gemeinsam ein geschärftes Bewusstsein entwickelt. Während die „Tekkies“ die medialen Möglichkeiten stark machten, für „immersive“ Formate votierten, brachten die historisch-politischen Bildner:nnen ihre Standards – etwa das im „Beutelsbacher Konsens“ für die politische Bildung formulierte „Überwältigungsverbot“ – mit ein. Ich teile Tobias‘ Wahrnehmung, dass die Begegnung, auch Konfrontation der unterschiedlichen Perspektiven, ein wesentlicher und produktiver Teil des Projekts war. Ich empfand es als sehr hilfreich, dass wir uns in einer ersten Phase bemüht haben, ein Einvernehmen zu entwickeln, wohin wir wollen. Das war ein Prozess des „Eingroovens“, den ich als sehr produktiv wahrgenommen habe. Yepp, und dann kamen die Künstler*innen hinzu. Eine extrem versierte, mit dem Thema vertraute „Crew“.

KW:Zum Projekt“design“, wenn dieses Wort in diesem Kontext erlaubt ist, gehörte von Anfang an die Einbindung von Medienkünstler:innen. Warum? Ich glaube, wir alle hatten die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit beauftragter Agenturen einerseits vom Streben nach High-End-Technologie getrieben ist, andererseits aber oft zu recht konventionellen Lösungen führt. Das Ziel war es, diese Rangfolge von Technologie und Inhalt umzukehren und kreativere, offenere Lösungen zu entwickeln. Und tatsächlich sind neue, experimentelle Aspekte in unser Prototyping eingeflossen, künstlerische Forschung beispielsweise zur Relation von Bildlichkeit und Geschichte oder zur Verknüpfung von digitalen Dokumenten und Bewegung im realen Raum.

TEH: Durch diese künstlerische Herangehensweise haben wir Vermittlungsfragen auch im Hinblick auf ästhetische und kuratorische Konzepte beleuchtet. Das hat mir in anderen Projekten oft gefehlt. Generell werden mediale Geschichtsprojekte oft auf die Frage verkürzt, ob Geschichte auch „authentisch“ abgebildet wird. Verloren geht dabei aber die Auseinandersetzung mit den Formen des Erinnerns. Dies wurde aber bei der Entwicklung der Prototypen immer mitgedacht.

MH: Genau in diesen Aushandlungsprozessen liegt eine Stärke des Projekts SPUR.lab. Dass wir uns dafür Zeit genommen haben, inhaltliche, bildungsbezogene, technische und künstlerisch-ästhetische Belange intensiv zu diskutieren. Dabei hatten wir großes Glück, dass auch die „Chemie“ unter den Beteiligten stimmte.

TEH: Das implizierte natürlich auch Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung. Um damit sensibel umzugehen, ist es einerseits wichtig, eine persönliche Auseinandersetzung mit den Geschichten, Orten und Dokumenten zu führen, was die am Projekt beteiligten Künstler:innen sehr intensiv gemacht haben. Andererseits ist es aber auch ein gemeinsamer Prozess, die potentiellen Grenzen auszuloten und künstlerische – und damit eben auch ästhetische – Lösungen zu finden, z.B. Andeutungen, Abstraktionen und narrative Zugänge, in denen die Integrität der Quellen bewahrt wird und ein eher forschender Zugang gesucht wird. Audiovisuelle und digitale Medien können hier eine besondere Rolle einnehmen, denn sie machen etwas präsent, das vergangen, abwesend oder nicht (mehr) zugänglich ist.

KW: Die Simulation der Geschichte, die Immersion mittels XR-Medien, bedarf im Feld der historischen Bildung einer Regulation, die Distanz nicht nur zulässt, sondern bewusst mitdenkt. Denn das Vergangen-Sein, ja sogar der Verlust von Erinnerung, ist selbst ein Teil des historischen Prozesses. Natürlich sind diese Fragen älter als die digitale Revolution, die wir erleben. Aber Digitalisierung hat sie zugespitzt, durch technische Perfektion, durch virale Verbreitung, künftig durch den noch gar nicht übersehbaren Einfluss künstlicher Intelligenz.

MH: Historisch-politische Bildung hat ein „kritisches Geschichtsbewusstsein“ zum Ziel. Der polnische Historiker Robert Traba hat mir mit einem Vortrag vor geraumer Zeit den Blick für den Unterschied zwischen „kritischem“ und „affirmativem Geschichtsbewusstsein“ geschärft. Immersion geht das Risiko ein, dem weithin bestehenden Wunsch nach „Affirmation“ zu folgen. Um Geschichte analytisch zu begreifen, vereinfachende sinnbildende Deutungen und Zuschreibungen dekonstruieren zu können, braucht es „quellenkritische Distanz“. Diese kritische Distanz gilt es meines Erachtens auch in die historisch-politische Bildung zu übersetzen. 

KW: Aus der politischen Geschichte der Medien haben wir gelernt, die angebliche Authentizität von Bildern, Filmen, Audiospuren kritisch zu hinterfragen. Aber andererseits sind auch Mediendokumente unverzichtbare und manchmal kostbare Spuren. Sie verbinden uns mit den Schicksalen viel eindrücklicher, als archäologische oder archivische Zeugnisse dies könnten. Ist dieses Konzept der „Berührung durch die Wahrheit“ noch tragfähig, wenn beispielsweise ein hebräisches Videointerview mit Nachfahren von Opfern für den Einsatz in deutschen Schulen so perfekt synchronisiert werden kann, dass auch die Lippenbewegungen des Sprechenden der deutschen Sprache folgen? Dieser für Historiker absurde Vorschlag zu größerer Eindringlichkeit wurde mir im Gespräch von einem wohlmeinenden, sehr engagierten Techniker unterbreitet.

TEH: Ich denke, dass das vielzitierte „Ende der Zeitzeugenschaft“ aber auch die Bedeutung anderer Quellen und Zeugnisse über die Zeit des Nationalsozialismus steigert. Das konnten wir auch an unseren Prototypen sehen. Ins Bewusstsein rücken neben den Erinnerungen von Zeitzeugen nun z.B. auch zeitgenössische schriftliche Berichte oder Zeugnisse subjektiven Erlebens wie Zeichnungen von Häftlingen. Dazu kommen Dokumente aus Tätersicht, die nun aber als mitunter verzerrte und fragmentarische Spuren gelesen werden, aber bei der Rekonstruktion von Orten helfen können.

MH: Wir befinden uns an der Schwelle zwischen „kommuniziertem“ und „kulturellen Gedächtnis“. Da gilt es, das „kommunizierte Gedächtnis“, die Überlieferung der Überlebenden, ebenso ins „kulturelle Gedächtnis“ zu überführen, wie die Eigensicht der Täter:innen, an denen uns interessieren muss, „what made them tick“. Das „Wiederholungsrisiko“ kann ja nur gebannt werden, wenn wir begreifen, wie durchschnittliche Menschen „wie Du und ich“ zu Täter:innen werden. Mich überzeugt das „Recht, Bescheid zu wissen“, weit mehr, als die „Pflicht, zu erinnern“. Auch gilt es, die Fehlstellen der Erinnerung zu markieren. So viele Geschichten –Geschichten von Ermordeten, die keine Stimme haben – bleiben unerhört. Eine Empathie, die sich den Mantel der vermeintlichen „Immersion“ überzieht, läuft hier schnell ins Leere.

KW:Es gilt als ausgemacht, dass für ein jüngeres Publikum digitale Formate eine immer wichtigere Rolle spielen. Aber bedeutet dies auch, dass beispielsweise für Schuler:innen beim Besuch einer Gedenkstätte oder eines Museums das immersive Medium, das eine virtuelle Geschichtserfahrung per Datenbrille ermöglicht, dem traditionellen Audioguide oder der fest installierten Medienstation mit Text- und Bildauswahl per se überlegen ist?

TEH: Immersion muss ja nicht immer bedeuteten, Vergangenheit „authentisch“ abzubilden. Das ist ja auch überhaupt nicht möglich, denn das Vergangene ist vergangen und wir besitzen nur noch Bruchstücke. Immersion kann auch dadurch entstehen, dass uns etwas wirklich bewegt und betrifft. Bei den Nutzer:innenstudien, die wir mit den Prototypen gemacht haben, haben wir festgestellt, welche besondere Kraft die Stimme hat. Oft entsteht Immersion durch das aufmerksame Zuhören, und das Sehen virtueller Räume verstärkt diesen Eindruck zwar, ist aber gegenüber dem Gehörten sekundär. Eine andere Form von Immersion entsteht durch Involviertheit, z.B. partizipative und interaktive Möglichkeiten, insbesondere durch das, was an Gedenkstätten als „forschendes Lernen“ praktiziert wird.

MH: Digitale und immersive Medien sind und bleiben vorrangig „Medien“, mit denen wir als Produzent*innen und Konsument*innen kompetent umgehen müssen. Heutige Jugendliche sind wiederum nicht die „digitalen Honks“, zu denen sie manchmal zuschreibend gemacht werden. Wenn „Immersion“ zu einem Vehikel würde, die Emotionen anderer – auf welchen guten Zwecke auch immer zielend – zu choreographieren, würden wir uns in das Feld der Manipulation begeben. Ich bin sehr froh, dass die künstlerischen Prototypen im SPUR.lab die skeptisch-produktiven Überlegungen von Tobias, Kurt und anderen am Diskurs Beteiligten sehr ernst genommen haben. Sie überwältigen nicht, beantworten nicht alle Fragen, sondern rufen neue Fragen auf. Ich bin sehr dankbar, an dieser Diskussion und am SPUR.lab-Prozess teilgehabt zu haben.

Dr. Kurt Winkler war Direktor des HBPG und ab April 2022 das SPUR.lab wissenschaftlich begleitet. 

Prof. Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann ist wissenschaftlicher Experte im SPUR.lab.

Dr. Matthias Heyl ist Leiter der pädagogischen Dienste in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

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