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BLACKBOX als virtueller Geschichtsraum: EINE VR-ANWENDUNG ZUR FORSCHENDEN ERKUNDUNG NATIONALSOZIALISTISCHER GEWALTGESCHICHTE

©Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, foto: bettina loppe

Mit Textpassagen aus Gerhart Seger’s Buch „Oranienburg. Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten“ können die Nutzer:innen in der VR-Anwendung BLACKBOX interaktiv das Gelände erkunden. Mit der Schrift als Quelle in der Hand, wählen sie Begriffe aus, die als Lesezeichen in das Buch, bzw. in die 3D Rekonstruktion des Areals hineinführen. Zu den verorteten Begriffen, hören sie jeweils einen Textausschnitt begleitet von einer Animation, die Ausschnitte des Raums nachzeichnet. Die Navigation führt um den Vernehmungsort Zimmer 16 als BLACKBOX herum, der bis zuletzt unzugänglich bleibt. Somit thematisiert der Prototyp auch Leerstellen und Grenzen von immersiven Anwendungen in der Erinnerungskultur.

 

Anfang / Ausgang

Gerhart Segers Buch, erschienen 1934 in Karlsberg, hielten wir erstmals im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte Potsdam bei einem Treffen von SPUR.lab in der Hand. Seger gehörte im März 1933 zu den ersten Reichstagsabgeordneten, die von den Nationalsozialsten in „Schutzhaft“ genommen wurden. Vom Gerichtsgefängnis in Dessau wurde er am 14. Juni 1933 mit anderen politischen Gefangenen in das KZ Oranienburg überführt. Segers Bericht wird als Exponat neben der Schrift „Konzentrationslager Oranienburg. Das Anti-Braunbuch über das erste deutsche Konzentrationslager“ des Lagerkommandanten Werner Schäfer in einer Vitrine im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte ausgestellt.

Wir fragten uns, ob und wenn ja, wie sich beide Schriften - Segers Darstellung der unmenschlichen Haftbedingungen und Schäfers schönredende Propaganda - digital und interaktiv - gegenüberstellen lassen könnten. Während der Auseinandersetzung mit Segers Schrift wurde uns bewusst, dass bereits mit der Machtergreifung 1933 in den ersten Lagern „Instrumentarien der Gewalt“ erprobt wurden, die später ins Lagersystem implementiert wurden.

Gerhart Seger gelang die Flucht. Er schickt das Manuskript seines Berichtes am 27. Januar 1934 aus dem Prager Exil als Strafanzeige mit Eidesformel an den Reichsminister der Justiz. Er benennt darin die „verübten Verbrechen gegen das Leben und die Gesundheit Gefangener“ und beschreibt detailliert die Tatorte, die sich über den Gebäudekomplex der ehemaligen Brauerei verteilen.

Doch, so ergab unsere Spurensuche, ist vor Ort, bis auf die Reste einer Mauer und einer Gedenktafel aus DDR Zeiten nichts mehr sichtbar. Auch kann das Gelände von aussen zwar eingesehen aber nicht betreten werden.

Virtual Reality

Einerseits die Umstände des historischen Ortes und anderseits die Präsenz von Segers Bericht als Ausstellungsobjekt und Zeugnis, das Zeitgeschichte in sich bewahrt, brachten uns auf die Idee einen Prototyp für eine Virtual Reality Anwendung zu entwickeln. Die Gebäude der ehemaligen Brauerei wurden dafür mit Hilfe von Grundrissen aus dem Oranienburger Stadtarchiv schemenhaft in 3D nachgebaut. Die zahlreichen zu Propagandazwecken hergestellten Fotografien, die in der nationalen Presse 1933, wie auch in Schäfers Buch veröffentlicht wurden, halfen uns in einem nächsten Schritt Segers Beschreibungen der Tatorte in dem Model räumlich zu verorten.

screenshot aus der Anwendung BLACKBOX ©BKG

Immersion im Kontext von Erinnerungskultur heißt für uns die digitalen Vermittlungsformate auch medienkritisch zu reflektieren. Über Vernehmungsort, Zimmer 16, in dem die Verhörten grausamer Folter ausgesetzt waren, berichteten neben Seger, auch weitere Inhaftierte, wie Nico Rost, Werner Hirsch, Max Abraham u.a. Zimmer 16, so entschieden wir, stellt somit eine Grenze des Darstellbaren dar, er kann daher in der VR-Anwendung nicht betreten werden. Es wird über ihn gesprochen, doch die Nutzer:innen nehmen Zimmer 16 als BLACKBOX im Zentrum des VR Prototypen war. Die Navigation führt in Kreisen um ihn herum. Der Titel BLACKBOX bezieht sich auf den Flugschreiber, der nach einem Flugzeugabsturz geborgen und in dem die Daten über den Hergang gesichert werden können.

Screenshot aus der Anwendung BLACKBOX ©BKG

Das Intro von BLACKBOX (siehe auch Videosequenz unten) beginnt mit Segers Brief an den Reichsminister der Justiz und einer Portraitfotografie des Politikers aus den dreißiger Jahren. Ergänzend können kurze Texte zu Gerhart Seger, die politische Ausgangssituation und den Ort das Konzentrationslagers Oranienburg von den Nutzer:innen angewählt werden.

Von hier aus betreten die Nutzer:innen das virtuelle Modell. Die Navigation ist in drei Ringen um Zimmer 16 konzipiert, der äußere Ring thematisiert, den Aufbau des Lagers mitten in der Stadt, der mittlere Ring wählt Textfragmente, die Zwang, Willkür, Schutzlosigkeit und Demütigung ansprechen, der innere Ring benennt die Folgen der Haft und mögliche Auswege durch Flucht, Entlassung und die Rückkehr ins Leben.

Im Outro wechselt die Perspektive in eine Kartenansicht, die Gerhart Segers Fluchtweg und die Wege seines Berichtes ab 1934 nachvollzieht.

Nutzer:innen

Da BLACKBOX eine immersive Anwendung im Gedenkkontext ist, setzen wir bewusst Strategien und Methoden ein, die einer emotional überwältigenden Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte entgegenlaufen.

©BKG, foto: bettina loppe

Die Nutzer:innen agieren als Forschende bzw. Suchende: Sie halten Segers Bericht als Quelle und Exponat in der Hand. Die Lesezeichnen vermitteln, dass mit dem Text „gearbeitet“ wurde. Selbstbestimmt wählen die Nutzer:innen Lesezeichen/Begriffe aus, die sie in den Text hineinführen und entsprechend auf das Gelände verorten. So bewegen sie sich zwischen den Gebäuden und Räumen des VR-Modells. Die baulichen Fragmente zeichnen sich synchron zu Segers Raumbeschreibungen als archäologische Fundstücke skizzenhaft jeweils im Raum nach. Die Zeichenanimationen „rekonstruieren“ aber immer nur Fragmente, nie den ganzen Raum.

Anwendbarkeit

Die VR-Anwendung BLACKBOX kann in direkter Verbindung mit dem Exponat, Segers Bericht, im Museums- und Gedenkstättenbereich, wie dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam sowie der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen eingesetzt werden.

Im Zentrum von BLACKBOX stehen Berichte politischer Gegner, als Zeugnisse über Unrecht und Verbrechen. Sie bilden die Gegenstimmen zu den zahlreichen inszenierten Fotografien, die zu Propagandazwecken hergestellt wurden. Die Recherche innerhalb der Berichte (Ego-Dokumente) bilden die Grundlage der experimentellen archäologischen Herangehensweise, die der Narration und Navigation in der virtuellen Umgebung zugrunde liegen.

Zur Vorbereitung eines Gedenkstättenbesuchs kann BLACKBOX dabei helfen, Informationen und historische Erfahrungen zur Ausgangssituation der Machtergreifung 1933 zu vermitteln, auf die Inhaftierungen politischer Gegner folgte und die den Beginn des Konzentrationslagersystems darstellt.

Informationen

Länge/Dauer: 15-20 Minuten, 29 Textstellen, Intro und Outro.

Text: Gerhart Seger: Oranienburg. Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten, Verlag für Berlin- Brandenburg, Potsdam, 2003

Recherchierte Berichte von: Nico Rost, Gerhart Seger, Werner Hirsch, Max Abraham, Wilhelm Grinus, Max Fürst, Stefan Szende, Kurt Hiller, Henry Marx, Ingeborg Küster

Konzeption: Katja Pratschke, Gusztáv Hámos (Künstlerische Experten), Beate Hetényi (Technologische Expertin)

Sprecher: Michael Magel

3D Modell Blender: Ramus Kaulitz

Programmierung Unity: Anastasia Varfolomeev, pong.li Studios

Grundrisse: Stadtarchiv, Oranienburg

Fotos: Bundesarchiv

Danke an: Christian Becker (Stadtarchiv Oranienburg), Torsten Dressler (ABD-Dressler, Archäologie Bauforschung Denkmalpflege)

Als Medienkünstler:innen und künstlerisch Forschende arbeiten Gusztáv Hámos und Katja Pratschke seit 20 Jahren gemeinsam an Theorie und Praxis der intermedialen Künste. Ihr künstlerisches Werk besteht sowohl aus Arbeiten mit Film, Fotografie, interaktiven wie sitespecific Installationen, begehbaren 360°-Kinoräumen, als auch aus der Kuration von Ausstellungen, Symposien, Filmreihen, oder der Durchführung von Workshops und die Herausgabe von Publikationen.

Beate Hetényi ist technologische Expertin im SPUR.lab. Für die Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF entwickelte sie das Virtual History Projekt. Ihre aktuellen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in der Entwicklung von Virtual und Augmented Reality Projekten.

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