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HORIZON - SPUREN DES NS-TERRORS AM EIGENEN HORIZONT

HORIZON läßt sichtbare und unsichtbare Spuren des NS-Terrors in Brandenburg anschaulich werden und erschließt einen Geschichtsraum, der durch die Orte des Verbrechens und die Wege der Opfer – Deportation, Transporte, KZ-Aufenthalte, Wege der Zwangsarbeit, Todesmärsche – gekennzeichnet ist. Nutzer:innen der HORIZON-App nehmen das komplexe System der nationalsozialistischen Konzentrationslager mittels einer georeferenzierten AR-Anwendung aus der heutigen Standortperspektive wahr. Der Subjektivität des eigenen Standorts mit seiner scheinbar zufälligen Nähe zum historischen Ort entspricht der Fokus auf die einzelnen Schicksale, der in HORIZON eröffnet wird: Denn der Weg der Opfer ist virtuell eingeschrieben in das scheinbar banale, alltägliche Landschaftspanorama, das wir durch die Kamera des Smartphones betrachten.

Der Titel HORIZON bezieht sich zum einen auf die konkrete Anwendung dieser browserbasierten AR-Geschichts-App.

Mockup Anwendung HORIZON

Von jedem Standort aus können Nutzer:innen durch die Kamera ihres Smartphones die Horizontlinie der umgebenden Landschaft nach Orten früherer Konzentrationslager, Positionen von Außenlagern, Stätten von Zwangsarbeit absuchen. Beim Schwenk nach oben werden entfernte Verbrechensorte eingeblendet, beim Schwenk nach unten rücken nahe gelegene Lokalisierungen ins Blickfeld und können herangezoomt werden. Ein Fingertipp öffnet Fenster mit Informationen und gibt Dokumente zu Opferbiografien frei, die mit dem jeweiligen Ort verbunden sind. So wird der „Horizont“ als fragile, verunsichernde Perspektive erfahrbar, schwankend zwischen Ferne und Nähe, Übersicht und Nahsicht, objektivem Wissen und subjektivem Blick, Geschichte und Gegenwart.

„LIMIT OF OUR SIGHT“

Zum anderen verweist eine literarische Formulierung aus der Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika metaphorisch auf HORIZON. In einem Gebet des Quäkers William Penn (1644-1718), Verfechter der Demokratie und der Religionsfreiheit sowie Gründer der Kolonie Pennsylvania im Jahr 1683, findet sich die Sentenz: "... death is only a horizon, and a horizon is nothing save the limit af our sight."* (zu deutsch etwa: „Der Tod ist nur ein Horizont, und ein Horizont ist nichts als die Grenze unseres Blicks.“) In seiner doppelten Bedeutung steht der Horizont sowohl für das visualisierte Zusammentreffen der Erdoberfläche mit dem Himmel als auch für die Grenzen der eigenen Perspektive und Erfahrung.  Die sichtbare Horizontlinie kann metaphorisch verstanden werden als Übergang zwischen Leben und Tod und als Vermittlung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.  William Penns literarische Analogie lässt eine philosophische Lesart zu, die auch die Opfer des Nazi-Terrors mit einschließen könnte. Hinter den erratischen Dokumenten und fragmentierten Spuren am sichtbaren Horizont nimmt jeder von uns aus einem individuellen Standpunkt und einer individuellen Perspektive an einer kollektiven Kultur des kollektiven Erinnerns teil.

* Obgleich diese Sentenz häufig zitiert wird, ist ihre Herkunft unklar. Helga Nowotny schreibt die Phrase John Donne (1572 -1631) zu und benutzt sie ohne Quellenangebe als Moto des zweiten Kapitels ihres Buches Time. The Modern and Postmodern Experience, Oxford 1996. Im Internet kursiert, ebenfalls ohne Quellennachweis, der Hinweis, der Text entstamme dem Gedicht „Death is only an Horizon“ von Rossiter W. Raymond (1840 – 1918). Der englischsprachige Wikipedia-Eintrag zu Raymond hingegen führt die zitierte Sentenz zurück auf ein Gebet von William Penn (1644-1718) (https://en.wikipedia.org/wiki/Rossiter_W._Raymond#'Death_is_Only_an_Horizon'; letzter Aufruf: 03.02.2023)

GESCHICHTSLANDSCHAFT - DATENSTROM

Brandenburg ist durchzogen von einem unsichtbaren Netz, den Wegen, die die Opfer des NS-Terrors zurücklegen mussten. Tausende von Häftlingen der Konzentrationslager erduldeten Zwangstransporte – Inhaftierungen, Zwangsarbeits-Einsätze, Deportationen aus okkupierten Ländern nach Deutschland, Verlegungen zwischen KZs und Außenlagern, Deportationen in Vernichtungslager, Todesmärsche. Mehr als 75 Jahre oder drei Generationen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus schwindet der unmittelbar erzählte Bericht der Opfer und ihrer Nachkommen. Er wird ersetzt durch dokumentierte Geschichte, durch den Datenstrom digitalen Wissens, der veränderte Formen der Erinnerungskultur erfordert und ermöglicht. HORIZON bewegt sich zwischen den Polen von abstrakter, archivischer Datenfülle auf der einen, und fragmentarischer Anschaulichkeit individueller Schicksale auf der anderen Seite.

Mockup aus der Anwendung

Ausgangspunkt der Spurensuche nach Lebens- und Todeswegen kann jeder beliebige Punkt in Brandenburg sein. Durch Erkundung von räumlicher Nähe und Distanz eröffnet sich eine radikal subjektive Perspektive. Das Projekt HORIZON visualisiert das komplexe System der nationalsozialistischen Konzentrationslager in Brandenburg in drei Ansichten: Die "Ortsansicht" enthält Text- und Medieninformationen zum ausgewählten Ort, die "Biografieansicht " folgt den biografischen Stationen ausgewählter Häftlinge und die "Kartenansicht" markiert den Standpunkt des Nutzers in Bezug auf NS-Terror Orte in Brandenburg auf einer Landkarte an.

Wenn Nutzer:innen ihre Smartphones zunächst auf ihre Umgebung ausrichten, sehen sie einen sich ständig verändernden Horizont sowie größere und kleinere Ortsmarkierungen, die nahe und ferne Erinnerungsorte und damit verbundene biografische Ereignisse anzeigen. Mit den Fingern kann man die "Ortsansicht" vergrößern und sich die Namen von Städten in der Nähe und in der Ferne anzeigen lassen. Indem diese Punkte angeklickt werden öffnet sich ein Popup-Informationsfenster mit Text-, Foto-, Video- und Tondokumenten zu dem ausgewählten Ort sowie mit einem oder mehreren Namen der Lagerinsassen, die dort inhaftiert waren.

Über das Auswählen der Namen gelangen die Nutzer:innen in die "Biografieansicht". Hier sind die Ortspunkte mit biografischen Daten verknüpft, die Stationen einer bestimmten Häftlingsgeschichte in Brandenburg werden benannt.

Mockup der Anwendung

Die "Kartenansicht" ermöglicht eine topographische Ansicht der Position des Benutzers in Bezug auf alle verfügbaren Orte in Brandenburg. In allen drei Ansichten können Informationen zeitlich gefiltert werden, so dass man die chronologische Entwicklung des nationalsozialistischen Lagersystems in Brandenburg von 1933-1945 verstehen kann. Der Schwerpunkt von HORIZON liegt nicht nur auf den bekannteren NS-Gedenkstätten in Brandenburg (z.B. Ravensbrück und Sachsenhausen), sondern vor allem auf dem damit verbundenen Netz von weniger bekannten Außen- und Sonderlagern, von denen viele in Orten liegen, die dem Nutzenden gut bekannt sein könnten.

ZIVILGESELLSCHAFTLICHE ERINNERUNGSKULTUR

Wie fast alle im SPUR.lab entwickelten Anwendungen ist auch HORIZON als offene, zur Partizipation einladende Plattform konzipiert. Weitere Daten können eingebunden, zusätzliche Orte markiert, neue Biografien erzählt werden. Insbesondere Initiativen der Jugendgeschichtsarbeit, lokale Geschichtsvereine, Ortschronisten, zivilgesellschaftliche Organisationen sind willkommen, Forschungsergebnisse in HORIZON mobil zugänglich zu machen.  Dabei geht es nicht um die Vollständigkeit aller Opferbiografien oder die systematische Kartierung aller Orte des Schreckens, sondern um die konkrete Erinnerung und die standortbezogene Erkundung aus der erinnerungskulturellen Perspektive jedes Einzelnen, der HORIZON als Zugang zu einer zeitgeschichtlichen Tiefendimension Brandenburgs nutzen möchte.

Arnold Dreyblatt  ist amerikanischer Medienkünstler und Komponist in Berlin. Er ist stellvertretender Direktor der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste Berlin und war Professor für Medienkunst an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Er ist künstlerischer Experte im SPUR.lab Projekt.

Dr. Kurt Winkler ist Kunsthistoriker, Kurator und Kulturmanager. Er forscht und publiziert zu Themen der Berliner und Brandenburger Kulturgeschichte und zur Geschichte und Theorie des Museums sowie den Konsequenzen der Digitalisierung im Museumskontext. Er ist wissenschaftlicher Experte im SPUR.lab Projekt.

Beate Hetényi ist technologische Expertin im SPUR.lab. Für die Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF entwickelte sie das Virtual History Projekt. Ihre aktuellen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in der Entwicklung von Virtual und Augmented Reality Projekten.

© BKG, foto: andré stiebitz

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