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VIDNESS - VIDEORÄUME ALS MEDIUM VON ERINNERUNGSPRAXIS

VIDNESS macht die Landschaft Brandenburgs zur virtuellen Ausgrabungstätte: Innerhalb und außerhalb der ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen führen Videowalks durchs Terrain und legen Spuren der NS-Vergangenheit frei, die bis in die Gegenwart reichen und die weite Vernetzung des NS Terrors in Brandenburg deutlich machen. Eine interaktive und wachsende Karte verknüpft verschiedene Videodokumente und 360° Videowalks, die vor Ort per Smartphone und Tablet oder in der Distanz als VR Installation erkundet und abgelaufen werden können. Die Videowalks umfassen sowohl dokumentarische Erkundungen, Interviews und Zeitzeugengespräche, als auch künstlerische und assoziative Ansätze.

Am Anfang des Projekts VIDNESS stand die Entdeckung einer historischen Karte in der Ausstellung „Bruchstücke’45“ im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam. Ein handgezeichneter Lageplan aus einem Gerichtsprozess von 1955 vermerkte den Tatort der Erschießung von vier polnischen Häftlingen, die im April 1945 aus der Kolonne des Todesmarsches aus Sachsenhausen geflüchtet waren. Sie hatten sich in einer Scheune eines Dorfes in der Ostprignitz versteckt, wurden denunziert und kurzerhand auf Befehl des Dorfvorstehers erschossen. Dieses Dorf war mir gut bekannt, meine Familie lebt in der Nähe und ich war jahrelang am Tatort vorbeigefahren ohne zu ahnen, was hier einst geschehen war. Und so wurde diese unscheinbare Dorflandschaft für mich plötzlich zu einer „schuldigen Landschaft“, ein Begriff den Almuth Püschel in ihrer Dokumentation der Orte von Zwangsarbeit in Potsdam für Tatorte wie diesen verwendet*. Während der Recherche zu den Hintergründen dieses Verbrechens – für das die beteiligten Dorfbewohner nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen worden waren – begann ich mit ersten Videoaufnahmen vor Ort. Diese „Tatortbegehungen“ oder Videowalks wurden zur Basis von VIDNESS. Die Idee dahinter ist es, die Ortschaften Brandenburgs um zahlreiche solcher virtuell einsehbarer Videodokumente anzureichern, um so zu verdeutlichen, dass das NS- Regime nicht nur einzelne zentrale Orte für Tod und Terror eingerichtet hatte – wie die Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück – sondern dass man von einer dezentralisierten Terror- oder Lagerlandschaft sprechen muss. Dazu gehörten die zahlreichen Außenlager und Zwangsarbeiterstätten, aber eben auch Dörfer und Städte, die zu Tatorten der NS-Geschichte geworden waren, und in denen sich heute keine oder nur wenige Spuren der Täter und Opfer finden.

* Almuth Püschel, Verwehte Spuren. Zwangsarbeit in Potsdam. Fremdarbeiter und Kriegsgefangene, Märkischer Verlag Wilhelmshorst 2002

screenshot aus der Anwendung ©BKG

Für den Prototypen von VIDNESS konzentrierte ich mich zunächst auf einen zentralen Ort des NS-Terrors in Brandenburg: das ehemalige Konzentrationslager für Frauen in Ravensbrück. Hier wiederum ist die Ausgangslage eine ganz andere als an den unmarkierten Tatorten im Rest des Landes: umfangreiche Archive und Ausstellungen, Audiowalks und Führungen, historische Gebäude und Mahnmale aus verschiedensten Epochen der jüngeren Geschichte liefern vielschichtige Perspektiven auf den Ort. Was können digitale Medien hier konkret noch zur Erinnerungspraxis beisteuern, welche Leerstellen in unserer Gedenkkultur gilt es zu füllen?

 

Meine ersten Notizen zur Ausgangslage waren folgende:

  • Dringlichkeit die Vernetzung verschiedener Orte zu zeigen, um die umfassenden Strukturen und Wege der Gewalt in der NS-Zeit aufzuzeigen.
  • Keine reine Illustration von Geschichte, sondern vor allem auch Bewusstmachung der umfassenden Dimension des NS Terrors, inkl. der Kompromittierung des täglichen Lebens und weiter Teile der deutschen Bevölkerung auch außerhalb der Lager („Lagerlandschaft Brandenburg“).
  • Immersive Grabungen in die Geschichte, die nicht überwältigen und keine Rekonstruktion der Lager vornehmen, sondern Hinweise liefern, die selbst in Beziehung gesetzt werden können.

Bei mehrmaligen Besuchen in Ravensbrück, meist allein, merkte ich schnell, was mir – trotz der Fülle an unterschiedlichsten Informationen über das ehemalige Lager – persönlich fehlte: ein Raum der geteilten Andacht und Reflektion und die Begegnung mit den Perspektiven, Geschichten und auch Emotionen Anderer, die diesen Ort erlebt haben. Eine Bewusstmachung der Kopräsenz und Zeitenüberlagerung, die uns die komplizierte Sedimentierung unserer Gegenwart verdeutlicht. Und darüber hinaus auch eine Form des Gedenkens, die die Friedhofsstille des Ortes zu durchbrechen vermag und neben der Trauer, die hier allgegenwärtig ist, auch Gefühlen wie der Fassungslosigkeit und der Wut ein zumindest virtuelles Ventil geben kann, ein Raum der das Monumentale dieses Ortes bricht und den Moment in den Mittelpunkt rückt.

 

screenshot aus der Anwendung ©BKG
screenshot aus der Anwendung ©BKG

So entstanden eine Vielzahl von 360° Videoaufnahmen, in denen Besucher nun vor Ort per App und in der Überlagerung von Jetztzeit und aufgezeichnetem Moment unterschiedlichste Begegnungen machen können; mit Überlebenden von Ravensbrück, die zurück an diesen Ort kommen und ihre Erinnerungen mit der Gegenwart abzugleichen versuchen; mit Filmemacher:innen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie und ob sich diese traumatischen Ereignisse überhaupt bildnerisch darstellen lassen; Angestellten der Gedenkstätte, die über ihre Erfahrungen aus der kulturellen Bildung sprechen oder historische Gegenstände aus den Archiven und Depots holen; ein Rapper aus zweiter Generation Überlebender, der seine Wut in Reime auf dem Lagergelände packt; Tänzer:innen, die mit ihren Körpern die Lagerarchitektur erforschen; Gedenkrituale wie Kranzniederlegungen und ein Rabbi, der den Kaddisch auf die Toten singt; Besucher:innen, die ihre Eindrücke zu verarbeiten suchen; und Gedichte und Zeichnungen der inhaftierten Frauen und Männer, die an ihren Ort der Entstehung zurückkehren.

©BKG, foto: bettina loppe

Das Projekt basiert auf verschieden technischen Parametern, die für mich maßgeblich sind für eine zeitgenössische Archivpraxis, und die ich im Rahmen meines Projekt „The Augmented Archive“ (2017) entwickelt habe: der Videostream als fließender, anikonischer Bildmodus; die Echtzeit als Wahrnehmungsmodus von Simultanität und ahistorischer Temporalität; das Feedback—sowohl in Bezug auf die Möglichkeit der individuellen Fortschreibung des Archivs als auch der ständigen Abgleichung und Bewusstmachung der Ortskoordinaten des Users—als bewusstem Einschluss eines aktiven Teilnehmers, im Gegensatz zur Vorstellung eines zeitlich und räumlich distanzierten Betrachters; und der Technologie der sogenannten Augmented Reality, die die Überlagerung verschiedener Zeit-, Informations- und Bildebenen ermöglicht.

Das Format des 360° Video erlaubt es hierbei, Benutzer:innen des Projektes direkt anzusprechen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst zum Geschehen zu positionieren, ihre eigene Anwesenheit an diesen Orten zu reflektieren und sich mit anderen subjektiven, zeitlichen und räumlichen Kopräsenzen zu konfrontieren. Weitere Beiträge bzw. Videowalks sollen – im Rahmen von Workshops – folgen, so dass die Karte mit ihren Inhalten wächst und so zu einem Archiv wird, dass das Zukünftige mit beinhaltet.

Kaya Behkalam ist Medienkünstler, Autor und Kurator, dessen Arbeiten alternative Formen der Geschichtsschreibung und archivarischer Praxis entwerfen. Er ist künstlerischer Experte im SPUR.lab.

Beate Hetényi ist technologische Expertin im SPUR.lab. Für die Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF entwickelte sie das Virtual History Projekt. Ihre aktuellen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in der Entwicklung von Virtual und Augmented Reality Projekten.

© BKG, foto: andré stiebitz

© Brandenburgische Gesellschaft für Kultur und Geschichte gemeinnützige GmbH

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